Christopher Ecker – Herr Oluf in Hunsum

Aus der Reihe: Bücher, die sich wirklich lohnen

Christopher Ecker: Herr Oluf in Hunsum

MDV, 232 S., gebunden

Ecker furios

Gelegentlich ist es ja schwierig, in einer Kritik den distanzierten Tonfall der durchdachten Abwägung durchzuhalten, zum Beispiel bei diesem Buch. Einfach, weil es derart erstklassig erzählt. Rasant, intelligent, erfrischend dreist. Verzagt aber auch, passenderweise. Virtuos komponiert, souverän im Stil, kühn in den Perspektivenspielen. Verwirrt fragt man sich, ob die Fähigkeit zur Kritik temporär lahmgelegt ist, man sucht nach Fehlern: vergeblich. Man greift nach einem anderen Buch, das man unlängst gelangweilt beiseitelegte. Nein, das kritische Bewusstsein ist intakt, dieses Buch ist langweilig wie zuvor. Man sieht: der neue Ecker ist besorgniserregend gut.

Kunstprofessor Oluf Sattler steht zu Beginn des Romans mit beiden Beinen fest in einem ausgewachsenen Dilemma. Er hat im fernen Hunsum an der Nordsee einen für ein ganzes Institut ungemein wichtigen Vortrag zu halten (Stichwort: Fördergelder) und ist deswegen unverzichtbar und unmittelbar vor der Abreise stehend. Zeitgleich erkrankt daheim heftig fiebrig seine Ehefrau – samt Kleinkind neben ihr –, die er unversorgt alleinlassen muss, wenn er seiner Unverzichtbarkeit Folge leisten will.

Guter Rat ist unbezahlbar, weil schwer möglich. Keine Zeit, Dinge zu organisieren, Aufbruch ins Verderben oder Daheimbleiben ins Verderben die Möglichkeiten, die bleiben. Oluf Sattler vermag nicht abzusagen, also bricht er gewissensgeplagt auf und setzt sich einer Dreieinigkeit der Plagen aus: der nun überaus ungeliebten Fahrt und ihrem Vortrag, dem Kopfkino der unentwegten Besorgnisse und dem erbarmungslosen Schweigen des Handys. Denn Sattler ruft zuhause an, niemand hebt ab oder ruft zurück, und sein Handy quält ihn nach kurzer Zeit mit mordernstem Fortschritt in Form von wirren und fehlgehenden Sicherheitsabfragen und Captchas. In der Welt und abgeschnitten von den Liebsten, es erschüttert ihn bis in die Grundfesten.

Christopher Ecker, Herr Oluf in Hunsum, TitelDas ist furios und allgemeingültig beschrieben. Es geht schmerzlich und bitter zu in diesem Roman, die simple Banalität dessen ist ebenso plastisch geschildert, obendrein brandet mitreißender Humor auf. Passt das zusammen? Und wie. Inhaltlich ist dieser Roman zu seinen Vorgängern lange Zeit ein Winkelzug. Ecker liebt es, uns in Wirklichkeitszersetzungen und Realitätstücken zu führen, aber diesmal präsentiert er die Welt überwiegend so bodenständig, wie sie ein Protagonist zwischen bewusster, konzentrierter Erdung und Seelenpanik nur erleben kann – gespickt mit ironisch-satirischen Seitenhieben auf den Wissenschaftsbetrieb, französische Modephilosophen, die Freuden der Paartherapie oder Bemerkungen über Kunst und Kapitalismus. Eckers kühne Perspektivenbrechungen sind ebenso faszinierend wie die eingewirkten Binnengeschichten, deren allerbeste einen lange heiteren Frankreichurlaub schildert, der so schrecklich endet wie Sattlers aktuelle Fahrt.

Denn dem Unheil eines verkorksten Vortrags folgt Sattlers traumähnliche Irrfahrt durch unheimlich-heimisch-vertrautes Gelände voller Orientierungslosigkeit, inklusive Zusammentreffen mit „auf vulgäre Weise attraktiv“ aufgebrezelten Zwillingen und schließlich einer ländlich derb-rustikalen Mordszene, die auch dem Kriminalroman entsprungen sein könnte, den Sattler zu lesen begonnen hat. Dieses Finale des Buchs bleibt mit Sattlers direktem Erleben noch atmosphärisch-assoziativ verknüpft, Freuds Traumdeutungserkenntnisse liefern einen zusätzlichen Schlüssel, den Motivverschiebungen zu folgen. (Schon Eckers Vorgängerroman, „Die letzte Kränkung“, wies einen Bezug zu Freud auf.)

Der Schluss, in dem eine Tankstelle zum Schlachthaus wird und / oder der Protagonist überraschenden Ruhm und neues Glück mit einer jungen, sexy Künstlerin erlebt, oszilliert nach seiner kurzen Einleitung („Der Rest ist schnell erzählt“) zwischen Alp- und Wunschtraum. Wirklich überzeugend geht das Buch in seinem Schluss nicht auf. Nein, nein, um Missverständnisse gleich zu vermeiden: Natürlich schreibt Christopher Ecker keine Bücher, die in einem auch nur annähernd platten Sinn „aufgehen“ sollen. Aber auch in seinem Nichtaufgehen gibt es einen motivlichen Faden, der in „Herr Oluf in Hunsum“ bis kurz vor Ende des Romans stimmig bleibt, auch die grotesk-alptraumartigen Szenen haften atmosphärisch immer noch am inneren Geschehen. Doch die Auslassungen, die am Ende ins Düster-Existentielle oder Traumlösungs-Triviale münden, entfliehen dem Konflikt und wirken deshalb weniger virtuos. Über weite Strecken ist dies Eckers bester Roman; man hätte seinem Schwung noch ein meisterhaftes Finale gewünscht, dann wäre man aus dem Loben gar nicht mehr herausgekommen.

MICHAEL KLEIN

Christopher Ecker – Das Schild

 

Vor einer Woche wurde an dieser Stelle Christopher Eckers Erzählminiaturen-Band „Andere Häfen“ vorgestellt, und wie dort angekündigt folgt nun diesmal, mit freundlichem Einverständnis des Autors, ein (von mir) ausgewählter Beispieltext aus diesem Buch.

Es ist eine Freude, diesen Text hier präsentieren zu können:

 

DAS SCHILD

Unterwegs zur Buchmesse, als er gerade im Abteil Platz genommen hatte, stellte er fest, dass er keineswegs, wie er die ganze Zeit gedacht hatte, ein Autor war. Er hatte, wurde ihm bewusst, nie ein Buch veröffentlicht. Außerdem hatte er nie eines geschrieben. Ja, begriff er mit einer Belustigung, die ihm unter anderen Umständen Angst gemacht hätte, er hatte nie auch nur eine einzige Zeile geschrieben, die es verdient hätte, „literarisch“ genannt zu werden. Also was mache ich hier?, fragte er sich. Weshalb fahre ich zur Buchmesse? Plötzlich stellte er fest, dass er seinen Namen vergessen hatte. Nachsichtig lächelnd nahm er den Ausweis aus der Brieftasche und starrte ihn lange an. Dann steckte er ihn in die Brieftasche zurück und verstaute diese umständlich in der Jackentasche. Er sah aus dem Fenster. Der Zug stand noch immer im Bahnhof. Warum sollte er denn nicht zur Messe fahren? Und mit diesem Gedanken lehnte er sich behaglich in seinem neuen Leben zurück wie in einem Liegestuhl, aber da erstarrte er: Hatte er die Kaffeemaschine ausgeschaltet? Besaß er überhaupt eine Kaffeemaschine? Wohnte er denn in dieser Stadt, deren Bahnhof er nicht kannte? Und wieso war er sich eigentlich so sicher, dass er zur Buchmesse fuhr? Eine Taube mit verkrüppeltem Fuß hüpfte über den Bahnsteig. Wie kann eine solche Geschichte enden? Warum sollte man so etwas aufschreiben? Wieso es lesen? Wäre er zu Hause, was auch immer das heißen mochte, hätte er die Wohnungstür geöffnet, um auf dem Klingelschild nachzusehen, wer er war.

Christopher Ecker, Andere Häfen, Titel

 

Aus:

Christopher Ecker: Andere Häfen

MDV, gebunden

Christopher Ecker – Andere Häfen

Aus der Reihe: Bücher, die sich wirklich lohnen

   Christopher Ecker: Andere Häfen

   MDV, gebunden

Meister-Miniaturen in Serie

Schon der Beginn ist furios, denn obwohl – mehrfach kontrolliert! – alles in bester Ordnung zu sein scheint, wird uns als Lesern der Boden bereits nach wenigen Zeilen ein wenig unsicher. Ein Mensch will aus dem Haus gehen und würde es ganz gewiss auch tun, wären da nicht die jedermann hinlänglich bekannten Allerweltsbedenklichkeiten: Sind die Lichter auch alle aus? Die Fenster geschlossen? Ist der Wasserkocherstecker gezogen? Der Computer heruntergefahren? Hat man nichts vergessen? Gewissenhaft wird nachgesehen. Vor dem endgültigen Schließen der Haustür stellen sich dennoch erneut dieselben Fragen ein. Zur Sicherheit lieber noch einmal das Nachgesehene nachsehen? Für alle Fälle: ja. Beruhigend: Alles, wie es sein soll, also Aufbruch. Und an diesem Punkt endet die alltagsnahe Schilderung und die Situation schraubt sich plötzlich tief ins Abgründige. Der besagte Mensch ist nicht zu beruhigen. Durch eine (in den Text kurz eingeflochtene) Lebenserfahrung bis auf die Grundfesten irritiert, sind ihm jegliche Gewissheiten abhanden gekommen. Sind die Lichter denn wirklich alle aus? Und die Fenster tatsächlich geschlossen…

Christopher Ecker, Andere Häfen, TitelDas ist hinreißend geschrieben und heißt „Zum Geleit“, als rechte Einstimmung sozusagen mit Vorwortfunktion und Warnhinweis in einem: Wir sollten vor der Lektüre des Kommenden noch einmal überprüfen, ob alles am Platz und in Ordnung ist. Dreißig Zeilen lang ist dieser Text, eine Kürzestgeschichte. Der Erzählband „Andere Häfen“ von Christopher Ecker (1967 geboren, „Fahlmann“, „Die letzte Kränkung“, „Der Bahnhof von Plön“) besteht aus lauter Kürzestgeschichten, 87 Stück an der Zahl auf 200 Seiten, ihre Länge reicht von einer halben Seite bis zu drei voluminösen Ausreißern, die es auf über 10 bringen. Und wir betreten in ihnen eine Welt der Ungewissheiten, Rätselhaftigkeiten, grotesken Wendungen, Verdrehtheiten und Bizarrerien, in der mal spielerisch, mal bitterböse-düster, aber immer originell, fein fabuliert und mit leuchtendem oder schwarzem Humor alles ganz anders ist, als wir es kennen oder es uns erscheint. In Eckers Welt ist „Wasser das Gegenteil von umblättern“, und in kaleidoskopartigen Ausformungen, Varianten und Brechungen geht es bekannten Erzählkonventionen ebenso an den Kragen wie festgefügten Vorstellungen von Identität. Ein durchgängiges Motiv ist die Auflösung der Wirklichkeit, wie wir sie kennen, ja die Grundsatzfrage, ob oder inwieweit es unsere Wirklichkeit eigentlich gibt, wie weit – oder genauer: wie wenig weit – sie reicht. Das nimmt alptraumhafte, kafkaeske, märchenhafte oder frei verspielte Züge an und zielt weiter ins Grundsätzliche.

Wir lesen zum Beispiel die Lebensgeschichte eines jungen Märchens („der Vater ist ein sehr strenges Märchen mit religiöser Moral und seine Mutter ein eher weitschweifiges Märchen voller unlogischer Wendungen“), die aus den verworrenen Teenagerjahren auf traurigen Pfaden in den Schreckenskeller eines Uhrmachers führt – ein finsterer, gleichwohl vergnüglich-aberwitziger Text, der uns in seinem grandiosen Einfallsreichtum die beliebte Schlusswendung zum Happy-End vorenthalten muss. Ein Mieter sieht sich bei einer Wohnungsabnahme überraschend einem Heer von Vermietern gegenüber – und auch er nimmt schließlich ein schlimmes Ende. In einer anderen Geschichte geht es um einen Film, in dem zwei Bundeswehr-Feldwebel Blutwurst aus Eigenblut herstellen und verzehren – wie es ausdrücklich heißt: nach einer wahren Begebenheit. Und nach Jahrzehnten tritt einem anderen Protagonisten eine längst vergessene Frau noch einmal ins Leben – und verlässt es sogleich wieder, aber wie!

Gerne führen die Erzählungen ins Düstere, Abgründige und vollends Groteske, freilich tun sie das gleichzeitig unerbittlich wie mit augenzwinkerndem Humor, heiter-doppelbödigem Wahnwitz oder selbstironischen Einschüben („Sie unterbrach die Verbindung, warf das Handy, wie es eine Figur in Eckers Romanen getan hätte, aufs Sofa und ließ Badewasser ein“).

Eine Geschichte ist dann zu Ende gedacht, wenn sie ihre schlimmstmögliche Wendung genommen hat“, schrieb Friedrich Dürrenmatt einst. Bei Ecker bekommt man das par excellence. „Als hätte man mein Dasein über Nacht mit grotesken Kulissen ausgestattet“, erklärt eine Figur einmal ihre Befindlichkeit, und der Leser kann diese Eindrücke teilen, wenn er die „Anderen Häfen“ besegelt. Kürzestgeschichten verlangen vom Autor vor allem die Fähigkeit, Sachverhalte, Motive und Atmosphären ebenso schnell wie präzise auf den Punkt zu bringen. Ecker ist darin bestechend souverän. Das Buch ist – versprochen – ein Genuss.

Und weil es nichts Besseres gibt, als sich von derlei Einschätzungen ein eigenes Bild machen zu können, gibt es jetzt eine hocherfreuliche Nachricht: Der nächste Beitrag an dieser Stelle besteht, mit freundlichem Einverständnis des Autors, aus einem vollständigen Beispieltext aus diesem Buch.

MICHAEL KLEIN