See-Land – Splitter

Von Ohrwürmern und großen Miniaturen

Vor einiger Zeit war im Blog dieser Seite hier eine begeisterte Kritik zur EP „See-Land“ zu lesen, die damals frisch herausgekommen war und auf die ich durch eine Sendung im WDR aufmerksam wurde. Der Sender hatte zwei Stücke daraus gespielt, aber als Ganzes wirkte die EP sogar noch deutlich besser. Jetzt sind die CD und das Vinylalbum „Splitter“ von See-Land erschienen, mit 13 Stücken, darunter übrigens alle der EP in klanglich noch einmal überarbeiteten und dadurch im Detail noch ausgefeilteren Versionen.

See-Land - Splitter Cover„See-Land“ ist ein Musikprojekt von Martin Deville, das er vor allem zusammen mit der Sängerin Esther-Marija Stemmer realisiert. Die neue Platte zeigt, was die EP bereits versprach: Ihre Arbeiten sind auf der einen Seite sehr homogen und zeigen zugleich einen ganz eigenen, unverwechselbaren Charakter. Zum anderen öffnen sie sich zu einer enormen Kompositionsbreite, von anspruchsvollen Ohrwürmern wie „Liebeslied“ und „Weil ohne Grund sie nicht hoffen kann“ bis hin zu Instrumentalstücken wie „Dein eigenes Echo“ und „Splitter“, zwei kurze Meisterwerke, die in die klassische Musik hineinreichen.

Der Titel „Splitter“ ließe spontan eigentlich auf etwas Schneidendes, Zerstörtes, Fragmentarisches schließen, aber schon die Pointe der Cover-Gestaltung von Natalie Curtis zeigt zurecht einen auffallenden, schönen Kontrast dazu, denn sowohl in den Kompositionen wie in den deutschen, poetischen Texten, die gekonnt Assoziationsräume öffnen und ihre Geschichten halb offenbaren und halb ein Geheimnis für den Hörer als Ausgangspunkt eigener Reflektionen lassen, geht es lebenserfahren, sensibel und auf völlig unsentimentale, aber auch unerschrocken-dezente Weise gefühlvoll zu.

Vier Anspieltipps sind bereits genannt, aber man könnte diese Liste beliebig verlängern. Leser dieser Zeilen können sich ohne jegliche Umstände ein eigenes Urteil bilden, denn die Stücke sind auf den üblichen Streamingkanälen a la Spotify, YouTube und Co. abrufbar. Und wer dann die CD oder das Vinylalbum sein eigen nennen möchte, findet beides überall im Fachhandel sowie weitere Informationen über See-Land hier.

P.S. Die Bewohner der Jackson-Insel haben ein offenes, objektives Urteil über 12 der Stücke auf dieser Platte, ein dreizehntes lassen sie an dieser Stelle unerwähnt. Der Leser findet den Grund hier.

 

Titel von GOOD TIMES 1/2024

GOOD TIMES 1/2024

„Sanfte Melodien, federleicht und größtenteils akustisch arrangiert, kluge Texte und zur richtigen Zeit ein eingestreutes Instrumental, SPLITTER lässt einen tief eintauchen in die zwischen Pop, Folk und Chanson pendelnden (Traum-) Welten, die hier erschaffen werden.“

Ulrich Schwartz, GOOD TIMES 1/2024

Hanjo Kesting: Schnee von gestern

Aus der Reihe: Bücher, die sich wirklich lohnen

Schnee von gestern, zeitlos
Neue Berichte aus den Chroniken der Belesenheit

„Schnee von gestern“ heißt ein Buch von Hanjo Kesting, das vor anderthalb Jahren erschienen und inzwischen schon gar nicht mehr sein neuestes ist. Aber man kann ein Buch, das einen solchen Titel trägt, nicht besprechen, wenn es noch ganz frisch ist, nicht wahr? Das wäre ein Widerspruch.

Noch bevor der Leser mit der Lektüre beginnt, drängt sich ihm die Frage auf, warum das Buch ausgerechnet „Schnee von gestern“ heißen mag. Schließlich ist dies doch ein offenkundig kommerziell gewagter Titel. Landläufig verbinden wir mit der Formulierung „Schnee von gestern“ etwas Verjährtes, mithin unbedeutend Gewordenes, etwas, das für uns kein Interesse mehr besitzt, weil es einer dahingeschmolzenen Vergangenheit angehört, ohne Spuren hinterlassen zu haben. Und das gilt in einer heutigen Zeit, die zu Hektik, Rasanz und schwindelnd gesteigerter Halbwertszeit neigt, noch mehr. Zur allgemeinen Neugier auf die Texte dieses Buches gesellt sich also eine zusätzliche offene Frage, denn es gibt weder ein Vor- noch ein Nachwort, das den Titel erklären würde. Andererseits versteht Hanjo Kesting, einer der profundesten Literaturkenner dieses Landes, Sprache viel zu gut, als dass man eine Ungeschicklichkeit unterstellen könnte.

"Schnee von gestern" und die Buchkassetten "Erfahren, woher wir kommen"

„Schnee von gestern“ und die drei Buchkassetten „Erfahren, woher wir kommen“

Der Band ist 500 Seiten schwer und enthält eine Sammlung von Texten zur Literatur und Geistesgeschichte. Ein klarer Schwerpunkt liegt auf Erkundungszügen durch die deutsche und internationale Literatur seit dem Ende des II. Weltkriegs, als Beispiele seien Martin Walser, Siegfried Lenz, Alfred Andersch, Raymond Carver oder John Updike genannt. Daneben gibt es einige Ausflüge zu Klassikern wie Daniel Defoe, Friedrich Nietzsche oder James Joyce. Eine zusammenhängende Darstellung ist es nicht, sondern Grundzüge eines Gesamtbilds aus dem Geist einzelner Mosaiksteine, die in der Summe über sich hinausweisen. Zugleich ist das Buch eine Art umfangreiches Supplement zu Kestings großen Literaturübersichten, vor allem natürlich den neun Bänden seiner Gesamtschau zur Literatur- und Geistesgeschichte mit dem übergreifenden Titel „Erfahren, woher wir kommen“.

„Man muss die Gegenstände, über die man schreibt, lieben, wirklich lieben“, formuliert Kesting in einem kurzen Grund-Credo auf dem Buchrücken, „ohne die kritische Distanz dabei einzubüßen.“ Das ist ein entscheidender Punkt, der erklärt, warum sich seine Texte so spannend lesen: Sie strahlen die Begeisterung der Lektüre aus, die Grundbegeisterung für die Literatur, nicht ein einziger Satz, in dem Kesting sich über einen Autor oder ein Buch erhebt; die Eitelkeit eines bestimmten Kritikertypus ist ihm fremd. Und das Ausmaß der Liebe wird auch in den Texten in ihren Abstufungen sichtbar. Diejenigen über Erich Maria Remarque, Erich Kästner oder Erich Fried besitzen einen ganz anderen Schwung als einer über Christoph Martin Wieland, um die Ausnahme eines weniger gelungenen Textes zu nennen. Am Ende der Lektüre fühlt man sich bereichert, vor allem aber neugierig gemacht auf konkrete Bücher und darüber hinaus weitergehende Lektüren. Der „Schnee von gestern“ glitzert also noch – ein Naturwunder.

Was hat es mit dem Titel auf sich? Gewiss sind viele Anlässe der Texte von gestern: einstige Bücherneuerscheinungen, Todes- und Gedenktage. Angesichts der großen, zeitüberdauernden Linien, die sich in ihnen spiegeln, passt „Schnee von gestern“ als Metapher der Vergänglichkeit in diesem Buch am besten zu Kestings Sätzen über Literaturkritik, über ihr Wesen und die allmähliche Abnahme ihrer Bedeutung. In einer Würdigung des großen Kritikers und Rhetorikers Marcel Reich-Ranicki heißt es: „Die Literaturkritik ist zwar nicht völlig verschwunden, aber als strukturiertes und qualifiziertes Instrument löst sie sich zunehmend auf. Der Beruf wird zu einer Sache von Spezialisten mit nur noch geringer Relevanz für die breitere Öffentlichkeit. Man kann es allerorten beobachten. Ihre Majestät die Literatur ist [aber] auch weiterhin darauf angewiesen, dass einzelne Menschen sich in Ruhe auf Bücher einlassen, besser: auf Literatur. Denn nur wenig, was als Buch gedruckt wird, gehört im emphatischen Sinn zur Literatur.“ Was Kesting hier (ursprünglich im Rundfunk 2013) feststellte, ist im seither vergangenen Jahrzehnt weiter vorangeschritten. In diesem Sinne mag der Titel auch etwas Wehmütiges haben.

Nimmt man die Summe von Kestings Büchern, durchmessen sie ein ausgedehntes literarisches Universum, Bildungslektüre im allerbesten Sinn, nicht lehrbuchhaft, sondern spannend vermitteltes Wissen. „Schnee von gestern“ fügt sich harmonisch in Kestings weitere Werke ein, die in der Summe eine umfangreiche veritable Literaturgeschichte in Einzeldarstellungen präsentieren, die sich von akademischen Werken darin unterscheidet, dass sie sich bei mindestens gleicher, aber allermeist höherer Substanz glänzend liest und den Bildungseffekt mit großer Unterhaltsamkeit kombiniert. „Delectare et prodesse“ (Erfreuen und Nützen) war ein kulturelles Leitbild der Lateiner, hier finden wir es für alle Literaturfreunde in Reinkultur.

Michael Klein

Hanjo Kesting: Schnee von gestern
Wehrhahn Verlag, Hannover, gebunden

„Der unbekannte Charles Dickens“

Charles Dickens, Bei Dämmerung zu lesen, TitelMit diesem Titel überschreibt Julia Janzen, Redakteurin der Waldeckischen Landeszeitung, ihren Artikel über den aktuellen Band der Klassikerreihe im Morio Verlag, „Bei Dämmerung zu lesen“, der Schätze aus Dickens’ Zeitschriftenarbeiten versammelt – etliche erstmals auf Deutsch –, sowie über Hintergründe zur Arbeit an der Reihe als solcher.

Der am 16.6.2023 erschienene Artikel der WLZ ist jetzt vollständig auch online zu lesen. Interessenten finden ihn durch einen Klick hier sowie auf den Seiten der Hessisch-Niedersächsischen Allgemeinen Zeitung (HNA) hier.

(Weitere Informationen zu „Bei Dämmerung zu lesen“ von Charles Dickens gibt es hier, zu Joseph Conrads und Ford Madox Fords „Die Natur eines Verbrechens“ hier. Informationen zur Reihe und eine Bestellmöglichkeit der Bücher gibt es auch auf der Website des Verlags, konkret Dickens hier.)

Zum 150. Geburtstag von Ford Madox Ford

Kommende Ereignisse werfen ihre Cover voraus

Joseph Conrad, Ford Madox Ford: Die Natur eines Verbrechens

In einem Brief an seine Geliebte, die fern in Rom weilt, gesteht ein vermeintlich wohlhabender Geschäftsmann, dass er vor dem Nichts steht und dass er nur noch einen Ausweg sieht: Selbstmord. Er beginnt, die Umstände eines begangenen Verbrechens zu beschreiben, gerät in Bekenntnisse, lässt Lebenslügen durchscheinen, gibt immer mehr von sich preis, kommt buchstäblich auf Gott, die Welt und den Sinn zu sprechen. Aber was in seinen Bekenntnissen ist echt und was lediglich Pose? Und warum verzögern sich die Dinge und werden weitere Briefe nötig?

Joseph Conrad, Ford Madox Ford, Die Natur eines Verbrechens, Cover„Die Natur eines Verbrechens“ ist keine Kriminalerzählung, sondern ein Bekenntnisbuch, geprägt von einem Blick, der durch eine existentielle Krise in der Wahrnehmung sowohl ungemein geschärft wie verstellt wird. Das lange vernachlässigte Werk der beiden Meisterautoren Joseph Conrad und Ford Madox Ford erscheint erstmals auf Deutsch, wobei das Buch ergänzend, ebenfalls als deutsche Erstveröffentlichung, erhellende Texte von Conrad und Ford über ihre Zusammenarbeit enthält. In einem Essay beschreibt der Herausgeber die Hintergründe und durchaus überraschende Komplexität des Werks.

Die Bewohner der Jackson-Insel freuen sich, dass damit bereits der achte Band aus der Reihe „Klassische Literatur im schönen Gewand“ aus dem Morio Verlag erscheint.

Das Buch lässt sich hier vorbestellen.

Informationen über weitere Titel aus der Reihe gibt es hier und auf der Website des Verlags.

Charles Dickens: Bei Dämmerung zu lesen

Unbekannte Glanzstücke aus Dickens’ Feder

Zwischen uns beiden sei’s gesagt: bewunderungswürdig!“, frohlockt Charles Dickens in einem Brief an einen Freund und kann sich in dieser Äußerung der Begeisterung über einen eigenen Text, den er gerade für seine Zeitschrift „Household Words“ geschrieben hat, nicht enthalten. Dickens war zeitlebens ein journalistischer Schriftsteller, verfasste bereits als Teenager Artikel und Berichte und verdankte seinen frühen immensen Erfolg den Skizzen und Erzählungen, die er in Zeitungen veröffentlichte.

Charles Dickens, Bei Dämmerung zu lesen, TitelMit „Household Words“ und „All the Year Round“ gründete er später zwei eigene Zeitschriften, in denen er nicht nur seine Romane in Fortsetzungen erscheinen ließ, sondern darüber hinaus regelmäßig Erzählungen, Reportagen und Kommentare zum Zeitgeschehen. Anspruch, Unterhaltung und Drängen auf Sozialreformen waren Dickens’ Ziele als Zeitschriftenmacher, und der Erfolg spiegelte sich in den Hunderttausenden von Leserinnen und Lesern, die jede Ausgabe erreichte.

Dieser Band versammelt die besten bei uns unbekannt gebliebenen Dickens-Beiträge, zahlreiche davon erstmals auf Deutsch. Dickens’ Feder braust vor Energie, Angriffs- und Erzähllust und gar manches erweist sich als zeitlos und heute wieder aktuell.

Charles Dickens (1812-1870) gehört bis heute zu den beliebtesten Schriftstellern der Weltliteratur, in England ist er geradezu eine nationale Institution, und auch bei uns erfreuen sich seine Werke einer nicht nachlassenden Beliebtheit. Sein „Weihnachtslied in Prosa“ erscheint im deutschsprachigen Raum bis heute alljährlich in immer neuen Ausgaben und Adaptionen. Dickens’ lebensvoller Erzählstil, sein quirliger Humor, sein vehementer Humanismus und seine mitreißende Schaffensfreude brachten ihm den Beinamen „der Unnachahmliche“ ein, seine Romane wie „Oliver Twist“, „David Copperfield“, „Little Dorrit“, „Eine Geschichte zweier Städte“ oder „Große Erwartungen“ wurden zu unvergänglichen Klassikern.

Charles Dickens

Bei Dämmerung zu lesen

Ungehobene Schätze aus seinen Zeitschriftenbeiträgen

Mit zahlreichen Texten erstmals auf Deutsch

Herausgegeben, übersetzt und mit einem Nachwort von Michael Klein

172 Seiten, gebunden, 26 €

Morio Verlag, 2022

 

Stimmen zum Buch

Da und dort sind in der Vergangenheit auch schon einige journalistische Arbeiten von Dickens ins Deutsche übersetzt worden. Aber dieses Büchlein zeigt, wie unentdeckt dieser begabte Zeitschriftenautor tatsächlich noch ist. Und vor allem, wie gegenwärtig die Themen sind, die ihn schon vor 120 Jahren ärgerten und dazu brachten, die ganz spitze Feder herauszuholen.“

Ralf Julke, Leipziger Zeitung

 

Eine Auswahl der bislang bei uns weitgehend unbekannt gebliebenen Beiträge Dickens’ hat der Journalist und Übersetzer Michael Klein jüngst zusammengestellt. Die zwischen 1836 und 1855 publizierten Texte, einige davon erscheinen erstmals auf Deutsch, beeindrucken vor allem durch ihre zeitlose Aktualität. Der Band mit Kostproben von Dickens’ journalistischen Arbeiten ist in der kleinen, aber feinen Edition „Klassische Literatur im schönen Gewand“ im Morio Verlag erschienen. Inzwischen liegen bereits sieben Titel vor – hoffen wir auf weitere Entdeckungen.

Mathias Iven, Das Blättchen – Zweiwochenschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft

 

Dieses Buch ist, hat man sich erst in Duktus und Rhythmus der Sprache eingelesen, der pure Genuss. Welche Lust am Erzählen, welche Energie, welcher Sprachwitz, welcher Humor! – Michael Klein bringt in diesem Buch einige der unbekannten Glanzstücke des „Unnachahmlichen“ – wie man Dickens auch nannte – an die Öffentlichkeit. Da kann man nur sagen: Danke!

07 Das Magazin für Gera und Region

 

„Bei Dunkelheit zu lesen“ enthält unbekannte, bis heute aufschlussreiche Perlen aus der Feder von Charles Dickens – einem Freigeist.

Tobias Prüwer, Chemnitzer Zeitung

 

Klassische Literatur im schönen Gewand, handverlesen von Michael Klein – zur Broschüre mit allen früheren Titeln der Reihe im Morio-Verlag geht es hier.

Unbekannte Glanzstücke aus Charles Dickens’ Feder

Kommende Ereignisse werfen ihre Cover voraus

Charles Dickens, Bei Dämmerung zu lesen, Titel„Zwischen uns beiden sei’s gesagt: bewunderungswürdig!“ frohlockt Charles Dickens in einem Brief an einen Freund und kann sich in dieser Äußerung der Begeisterung über einen eigenen Text, den er gerade für seine Zeitschrift „Household Words“ geschrieben hat, nicht enthalten. Dickens war zeitlebens ein journalistischer Schriftsteller, verfasste bereits als Teenager Artikel und Berichte, verdankte seinen frühen immensen Erfolg den Skizzen und Erzählungen, die er in Zeitungen veröffentlichte, und gründete mit „Household Words“ und „All the Year Round“ später zwei eigene Zeitschriften, in denen er nicht nur seine Romane in Fortsetzungen erscheinen ließ, sondern darüber hinaus regelmäßig Erzählungen, Reportagen und Kommentare zum Zeitgeschehen.

Anspruch, Unterhaltung und Drängen auf Sozialreformen waren Dickens’ Ziele als Zeitschriftenmacher, und der Erfolg spiegelte sich in den Hunderttausenden von Lesern, die jede Ausgabe erreichte. Der Band „Bei Dämmerung zu lesen“, der in Kürze erscheint, versammelt die besten bei uns unbekannt gebliebenen Dickens-Beiträge und präsentiert eine Vielzahl davon zum ersten Mal auf Deutsch.

Dickens’ Feder braust vor Energie, Angriffs- und Erzähllust und gar manches erweist sich als zeitlos und heute wieder aktuell.

Christopher Ecker – Herr Oluf in Hunsum

Aus der Reihe: Bücher, die sich wirklich lohnen

Christopher Ecker: Herr Oluf in Hunsum

MDV, 232 S., gebunden

Ecker furios

Gelegentlich ist es ja schwierig, in einer Kritik den distanzierten Tonfall der durchdachten Abwägung durchzuhalten, zum Beispiel bei diesem Buch. Einfach, weil es derart erstklassig erzählt. Rasant, intelligent, erfrischend dreist. Verzagt aber auch, passenderweise. Virtuos komponiert, souverän im Stil, kühn in den Perspektivenspielen. Verwirrt fragt man sich, ob die Fähigkeit zur Kritik temporär lahmgelegt ist, man sucht nach Fehlern: vergeblich. Man greift nach einem anderen Buch, das man unlängst gelangweilt beiseitelegte. Nein, das kritische Bewusstsein ist intakt, dieses Buch ist langweilig wie zuvor. Man sieht: der neue Ecker ist besorgniserregend gut.

Kunstprofessor Oluf Sattler steht zu Beginn des Romans mit beiden Beinen fest in einem ausgewachsenen Dilemma. Er hat im fernen Hunsum an der Nordsee einen für ein ganzes Institut ungemein wichtigen Vortrag zu halten (Stichwort: Fördergelder) und ist deswegen unverzichtbar und unmittelbar vor der Abreise stehend. Zeitgleich erkrankt daheim heftig fiebrig seine Ehefrau – samt Kleinkind neben ihr –, die er unversorgt alleinlassen muss, wenn er seiner Unverzichtbarkeit Folge leisten will.

Guter Rat ist unbezahlbar, weil schwer möglich. Keine Zeit, Dinge zu organisieren, Aufbruch ins Verderben oder Daheimbleiben ins Verderben die Möglichkeiten, die bleiben. Oluf Sattler vermag nicht abzusagen, also bricht er gewissensgeplagt auf und setzt sich einer Dreieinigkeit der Plagen aus: der nun überaus ungeliebten Fahrt und ihrem Vortrag, dem Kopfkino der unentwegten Besorgnisse und dem erbarmungslosen Schweigen des Handys. Denn Sattler ruft zuhause an, niemand hebt ab oder ruft zurück, und sein Handy quält ihn nach kurzer Zeit mit mordernstem Fortschritt in Form von wirren und fehlgehenden Sicherheitsabfragen und Captchas. In der Welt und abgeschnitten von den Liebsten, es erschüttert ihn bis in die Grundfesten.

Christopher Ecker, Herr Oluf in Hunsum, TitelDas ist furios und allgemeingültig beschrieben. Es geht schmerzlich und bitter zu in diesem Roman, die simple Banalität dessen ist ebenso plastisch geschildert, obendrein brandet mitreißender Humor auf. Passt das zusammen? Und wie. Inhaltlich ist dieser Roman zu seinen Vorgängern lange Zeit ein Winkelzug. Ecker liebt es, uns in Wirklichkeitszersetzungen und Realitätstücken zu führen, aber diesmal präsentiert er die Welt überwiegend so bodenständig, wie sie ein Protagonist zwischen bewusster, konzentrierter Erdung und Seelenpanik nur erleben kann – gespickt mit ironisch-satirischen Seitenhieben auf den Wissenschaftsbetrieb, französische Modephilosophen, die Freuden der Paartherapie oder Bemerkungen über Kunst und Kapitalismus. Eckers kühne Perspektivenbrechungen sind ebenso faszinierend wie die eingewirkten Binnengeschichten, deren allerbeste einen lange heiteren Frankreichurlaub schildert, der so schrecklich endet wie Sattlers aktuelle Fahrt.

Denn dem Unheil eines verkorksten Vortrags folgt Sattlers traumähnliche Irrfahrt durch unheimlich-heimisch-vertrautes Gelände voller Orientierungslosigkeit, inklusive Zusammentreffen mit „auf vulgäre Weise attraktiv“ aufgebrezelten Zwillingen und schließlich einer ländlich derb-rustikalen Mordszene, die auch dem Kriminalroman entsprungen sein könnte, den Sattler zu lesen begonnen hat. Dieses Finale des Buchs bleibt mit Sattlers direktem Erleben noch atmosphärisch-assoziativ verknüpft, Freuds Traumdeutungserkenntnisse liefern einen zusätzlichen Schlüssel, den Motivverschiebungen zu folgen. (Schon Eckers Vorgängerroman, „Die letzte Kränkung“, wies einen Bezug zu Freud auf.)

Der Schluss, in dem eine Tankstelle zum Schlachthaus wird und / oder der Protagonist überraschenden Ruhm und neues Glück mit einer jungen, sexy Künstlerin erlebt, oszilliert nach seiner kurzen Einleitung („Der Rest ist schnell erzählt“) zwischen Alp- und Wunschtraum. Wirklich überzeugend geht das Buch in seinem Schluss nicht auf. Nein, nein, um Missverständnisse gleich zu vermeiden: Natürlich schreibt Christopher Ecker keine Bücher, die in einem auch nur annähernd platten Sinn „aufgehen“ sollen. Aber auch in seinem Nichtaufgehen gibt es einen motivlichen Faden, der in „Herr Oluf in Hunsum“ bis kurz vor Ende des Romans stimmig bleibt, auch die grotesk-alptraumartigen Szenen haften atmosphärisch immer noch am inneren Geschehen. Doch die Auslassungen, die am Ende ins Düster-Existentielle oder Traumlösungs-Triviale münden, entfliehen dem Konflikt und wirken deshalb weniger virtuos. Über weite Strecken ist dies Eckers bester Roman; man hätte seinem Schwung noch ein meisterhaftes Finale gewünscht, dann wäre man aus dem Loben gar nicht mehr herausgekommen.

MICHAEL KLEIN

Der Klassiker des historischen Romans

Walter Scott zum 250. Geburtstag

Walter Scott, der Klassiker des historischen Romans, Porträt

Walter Scott, Klassiker des historischen Romans

Heute vor 250 Jahren, am 15. August 1771, wurde Walter Scott geboren, einer der gefeiertsten, bedeutendsten Autoren seiner Zeit, der Klassiker des historischen Romans, der mit „Waverley“ (1814) den Prototyp dieser Gattung schuf, dessen Vorbild bis heute nachgeeifert wird.

„Ivanhoe“ und „Quentin Durward“ wurden zu seinen größten Erfolgen, prächtige Abenteuerbücher beide, doch in seinem reichen Werk gibt es noch zahlreiche Edelsteine von zeitloser Qualität, man denke an fulminante Romane wie „Old Mortality“, „Die Braut von Lammermoor“ oder das Spätwerk „Chrystal Croftangrys Geschichte“ – Bücher, die es lohnt, wieder zu lesen und zu würdigen.

Denn dass Walter Scott etwas aus der Mode gekommen ist, spricht wahrlich nicht gegen ihn.

Lesen wir hinein, was Größen der Literatur über ihn zu sagen wussten:

 

Man liest viel zuviel geringe Sachen, womit man sich die Zeit verdirbt. Man sollte eigentlich immer nur das lesen, was man bewundert, wie ich es nun an Walter Scott erfahre. Da ist nun freilich alles groß, Stoff, Gehalt, Charaktere, Behandlung, und dann der unendliche Fleiß in die Vorstudien, sowie in der Ausführung die große Wahrheit des Details! Er ist der reichste, gewandteste und berühmteste Erzähler des Jahrhunderts.

Johann Wolfgang von Goethe

 

Sir Walter Scott war Britanniens größter Dichter, man mag einwenden und sagen, was man will.“

Heinrich Heine

 

Du bittest mich, Dir ein paar Bücher als Lektüre zu empfehlen. An Romanen empfehle ich ausschließlich Scott; alles nach ihm taugt nichts mehr.“

Charlotte Brontë

 

Dieser Schriftsteller ist so bedeutend, dass das Erste, was man von ihm liest, immer in Erstaunen setzt, man mag zu ihm gelangen, von welcher Seite man wolle.“

Ludwig Tieck

 

Walter Scott, Chrystal Croftangrys Geschichte, Cover„Die Schönheit der Küsten und Inseln, Seen und Berge des schottischen Hochlands ist unbestreitbar groß, aber doch vielleicht nicht so groß, wie mancher versucht sein könnte aus Walter Scott`schen Schilderungen herzuleiten. Nicht als ob diese Schilderungen der Wahrheit selbst entbehrten, gegentheils, sie zeichnen sich fast immer durch eine daguerreotypische Treue aus, die neben so vielem anderen zur Bewunderung hinreißen muß: aber es bleibt beim Leser selbst jener verzeihliche Irrthum nicht aus, der die Schilderung mit dem Geschilderten unwissentlich verwechselt und die Makellosigkeit, den Schwung und imposanten Vollklang der poetischen Beschreibung auf das beschriebene Objekt überträgt. Das Erscheinen seines ersten Romans fiel mit dem Sturz der napoleonischen Herrschaft zusammen, und man darf ohne Übertreibung sagen, der Name Walter Scott fing an, den Namen Napoleon im Munde des Volkes, wenigstens der Gebildeten aller Völker, abzulösen.“

Theodor Fontane

 

Das Erscheinen eines neuen Romans aus seiner Feder verursachte in den Vereinigten Staaten eine größere Sensation als manche Schlacht Napoleons.“

Samuel Goodrich

 

Walter Scott: Die Braut von Lammermoor - CoverWalter Scott ist der König der Romantiker.“

Robert Louis Stevenson

 

Mein ganzes Leben lang habe ich mich an den Romanen von Walter Scott erfreut!“

Jules Verne

 

„Lesen und Genesen“ u. a. mit James M. Barrie

Ursula Baumhauer (Hrsg.): Lesen und Genesen

Diogenes Verlag, Taschenbuch

Lesen und Genesen, hrsg. von Ursula Baumhauer, mit "Der kranke Logiergast" von James M. BarrieEs wäre ganz gewiss schön, wenn Literatur Wunder vollbringen könnte. Angesichts des Buchtitels „Lesen und Genesen“ stellt sich mir spontan das Bild eines Arztes vor Augen, der einem Kranken folgendes Rezept ausstellt: „Zwanzig Seiten eines Klassikers täglich, am Wochenende zusätzlich eine kräftige Dosis moderne Literatur, bitte nicht vergessen immer wieder einige Tropfen Lyrik, unverdünnt und ausführlich wirken lassen – das bringt Sie unfehlbar wieder auf die Beine.“ Erich Kästner hat eine Gedichtauswahl anno 1936 bekanntlich „Lyrische Hausapotheke“ genannt.

Lesen und Genesen“ heißt eine von Ursula Baumhauer (der Name strotzt vor Gesundheit) herausgegebene und zusammengestellte Textauswahl, in der es um Krankheit und Gesundung geht. Eine der prächtigen Erzählungen dieses Bandes ist „Ein kranker Logiergast“ von James M. Barrie, und das wird an dieser Stelle zuerst und besonders auffällig erwähnt, weil sich ihr Übersetzer darüber besonders freut. Sie ist der im Morio Verlag erschienenen deutschen Barrie-Erstausgabe „Wie meine Mutter ihr sanftes Gesicht bekam“ (2017) entnommen, und wem „Der kranke Logiergast“ heiteres, heilendes Vergnügen bereitet, findet in diesem Buch noch etliches Verlockende mehr in gleicher Qualität. Neugier darauf sei also guten Gewissens empfohlen.

Barrie würde sich übrigens wohl fühlen unter seinen Schriftstellerkollegen, die in der Summe eine große Bandbreite der Motive und Stile auffahren. William Somerset Maugham tischt zu Beginn eine kurze Diätkomödie auf, die in hemmungslos fulminanter Völlerei endet. Lebenswahr kurios der Zwischenstopp „Drei Stunden zwischen zwei Flügen“ von F. Scott Fitzgerald. Gekonnt schreibt George Watsky in „Welches Jahr haben wir?“ über das Erleben epileptischer Anfälle. Und der Wirbelsäulen-geplagte Cees Nooteboom schlägt aus dem Leiden trotzig komische Funken in der Ménage-à-trois „Doktor K., le docteur D. und ein hundertjähriger Rücken“. Weitere Sorgen und Freuden sind auf den insgesamt 270 Seiten des Buchs u. a. bei Benedict Wells, Banana Yoshimoto oder Bernhard Schlink zu entdecken. Die eindrucksvolle Titelillustration stammt von André Brasilier und gesellt sich zum zeitlos eleganten Aussehen der Diogenes-Bücher samt ihrer angenehmen Haptik.

MICHAEL KLEIN

Klassische Literatur im schönen Gewand, handverlesen von Michael Klein – zur Broschüre mit allen Titeln der Reihe im Morio-Verlag geht es hier.

Caroline Baldwin – Die Gesamtausgabe 1

Aus der Reihe: Comic-Klassiker & Klasse-Comics

André Taymans: Caroline Baldwin – Die Gesamtausgabe 1

Schreiber & Leser, gebunden

Andre Taymans, Caroline Baldwin, Gesamtausgabe 1, Schreiber & Leser

Caroline Baldwin, Gesamtausgabe 1

Die amerikanische Elektronikfirma Kristal Corporation ist in heller Aufregung. Frank White, ein ehemaliger NASA-Astronaut und Teilnehmer einer Mondlandung, ist ohne Nachricht oder Spur verschwunden. Als Repräsentant der Firma ist er dringend notwendig, gerade jetzt, da ein millionenschwerer Vertrag mit einem japanischen Partnerunternehmen unterzeichnet werden soll. White ist nirgends aufzufinden. Die Firma beauftragt die Detektei Wilson mit der Aufgabe, und diese setzt Caroline Baldwin auf den Fall an. Aber ist es ein Fall? Hat ein fieser Konkurrent von Kristal den Astronauten entführt? Oder hat sein Verschwinden ganz andere Hintergründe, an die noch niemand denkt? Caroline Baldwins Ermittlungen führen sie nach Venedig. Aber die Wahrheit weiß vielleicht nur der Mond…

Ihr frecher Kurzhaarschnitt, die mädchenhaften blauen Augen – zwischen tough und verletzlich – und die sternengleichen Sommersprossen sind ihr Markenzeichen: Caroline Baldwin, die junge New Yorker Privatdetektivin indianischer Abstammung, ist Kind und Frau zugleich, unerschrocken, selbstbewusst, zupackend einerseits und sensibel, verloren und immer ein bisschen überwältigt von der großen Welt und den Abgründen, die darin lauern, andererseits.

Caroline Baldwin, Astronaut am Abgrund, Cover

Caroline Baldwins erstes Abenteuer

»Astronaut am Abgrund« heißt der erste Fall Caroline Baldwins. André Taymans vielschichtige Geschichte voller Thrill, Romantik, Poesie und Melancholie ist brillant und die beste Episode einer ohnehin herausragenden Reihe. Graphisch ist sie eine Klasse für sich, beeinflusst von Altmeister Hugo Pratt (»Corto Maltese«) und der »ligne claire« der Hergé-Schule, dabei aber stilistisch eigenständig, der Erzählweise des Films verwandt und von starker, plastischer Farbgebung.

Der dieser Tage erschienene erste Band der Gesamtausgabe versammelt die ersten vier Caroline-Baldwin-Alben, und neben »Astronaut am Abgrund« ist darin vor allem „Kontrakt 48-A“ sehr zu empfehlen. Carolines Freund seit Kindertagen Mike, Waise und aufgrund einer angeborenen Behinderung im Rollstuhl sitzend (Carolines indianische Familie nannte ihn „Zwei Räder“), bittet sie, seiner Herkunft nachzuforschen. Über seine Eltern weiß er nichts, nur dass jemand anonym für ihn und seine Ausbildung monatlich einen Betrag ans Waisenhaus zahlte. Nichts als ein kleiner, schnell erledigter Freundschaftsdienst, denkt Caroline, doch kaum beginnt sie ihre Nachforschungen, sterben ihre anvisierten Gesprächspartner und Caroline begreift, dass sie selbst ins Visier mächtiger, unbekannter Gegenspieler geraten ist. Und das alles nur, weil Mike wissen will, wer seine Eltern waren?

Die Comicreihe »Caroline Baldwin« überzeugt mit ihrer exzellenten, modernen visuellen Gestaltung ebenso wie mit ihrem ausgeprägten Sinn für Atmosphären, psychologische Zwischentöne und die tieferen Dimensionen des Lebens. Klarer Fall: beeindruckend.

P.S.: Der zweite Band der Gesamtausgabe ist bereits für Juni angekündigt.

MICHAEL KLEIN