Henry James – Daisy Miller

Aus der Reihe: Bücher, die sich wirklich lohnen

Henry James: Daisy Miller

Diverse Ausgaben

Im letzten Beitrag an dieser Stelle sind wir dem Scheitern einer Liebe in Joseph Conrads Langerzählung „Freya von den Sieben Inseln“ aus dem Jahr 1912 gefolgt, in diesem und zwei nachfolgenden Beiträgen gehen wir der Liebe in drei weiteren Novellen oder Kurzromanen nach, wobei wir uns chronologisch abwärts bewegen.

Henry James, Daisy Miller, TitelIn Vevey in der Schweiz lernt der in Genf studierende, siebenundzwanzigjährige Amerikaner Frederick Winterbourne die junge, schöne Landsmännin Daisy Miller kennen. An Geld fehlt es ihrer Familie nicht, freilich gehört sie zur feinen Gesellschaft nicht wirklich dazu, ohne Stand und erlauchte Verwandtschaft. Dass der Familienwohlstand erarbeitet wurde und nicht angeboren ist, ist selbstverständlich ein Makel, ein noch schlimmerer ist ihre unbekümmerte Art, sich in Gesellschaft mit Herren zu zeigen. Auch Winterbourne ist zwar in Daisy sogleich verschossen und von ihr eingenommen, doch plagen ihn eifersüchtige Gedanken, die er als Etikette-Beobachtungen tarnt. Gewiss, Daisy kann für ihn nicht mehr als ein „Flirt“ sein, aber sein Ego kränkt sich permanent an der Anwesenheit anderer und besonders eines bestimmten Herrn in ihrer Nähe. Ist sie einfach nur derart unschuldig, dass sie sich der Folgen für ihr Ansehen nicht bewusst ist? Oder ist sie so frei, keine Rücksicht auf die Denkweisen der sie umgebenden Gesellschaft zu nehmen? Oder ist sie, so schön und rein sie auch aussieht, hinter ihrer natürlichen Fassade vergnügungs- und gefallsüchtig und gerne auch mal wirklich lasterhaft?

Winterbourne grübelt über derlei Fragen, sucht nach dem passenden Etikett, und als er es tatsächlich gefunden zu haben glaubt, gerät er sogleich in neue Zweifel, die sich ihm nicht mehr auflösen werden, denn Daisy segnet nach einer Infektionskrankheit überraschend das Zeitliche.

Henry James ist in diesem 1878 geschriebenen Kurzroman in seinem Element, die Welt der feinen europäischen Gesellschaft und die sich in sie mischenden Amerikaner, die mit Biss ausgelebten oder verachteten Verhaltensabstufungen der Etikette, dazu die Bespiegelungen der Figuren untereinander sind geschickt ausgespielte Motive. Während Winterbourne Daisy auszumachen sucht und kein rechtes Bild von ihr gewinnt (während James es mehrmals in seinen Formulierungen andeutet), ist sein Abtaxieren der jungen Frau genau das, was ihn selbst definiert. Die Erzählung kommt lange vermeintlich luftig-leicht daher, ist aber komplex in ihren Möglichkeiten und mündet in den offenen Raum eines abrupten tragischen Schlusses.

Auf dem Titel dieser antiquarisch erworbenen Ausgabe blickt uns Cybill Shepherd an. Wie kommt das? Peter Bodganovich hat den Stoff 1974 verfilmt – kein leichtes Unterfangen, denn das Entscheidende besteht nicht in einem Handlungsgerüst, sondern in Atmosphären, Andeutungen und Zwischentönen, die präzise getroffen werden wollen –, und Shepherd spielte die Titelrolle. Obwohl der Film starke Momente besitzt, wird er der Vorlage leider nur halb gerecht. Vor allem die langen Passagen ihrer einseitig überdrehten Geschwätzigkeit ruinieren gerade das, was die literarische Vorlage geschickt in der Schwebe hält. Weder der poetische Zauber, der auf der Illusion balanciert, noch das gestrenge Gespinst der Etikette werden wirklich plastisch.

Dennoch muss man dem häufig verrissenen Film zugute halten, dass einzelne Szenen trefflich gelangen, auch wenn sie das Ganze nicht zu tragen vermögen. Dass Bogdanovich und / oder sein Drehbuchautor Frederic Raphael (die sich über der Arbeit zerstritten) nicht naiv an den Stoff herangingen, beweisen z.B. einige schöne, James hinzugefügte Detaileinfälle. Die erste Einstellung zeigt uns aus erhabener Höhe im Tiefparterre eines Luxushotels am frühen Morgen einen einsamen Arbeiter den Boden putzen – die Kamera blickt von oben auf ihn herab, so wie wenig später die feine Gesellschaft, die hier gastiert und deren einzige Lebensaufgabe darin besteht, im Luxus zu leben und sich dabei nicht allzu sehr zu langweilen.

Michael Klein