Emmanuel Guibert – Alans Kindheit

Aus der Reihe: Comic-Klassiker & Klasse-Comics

Emmanuel Guibert: Alans Kindheit

Edition Moderne, gebunden

Es gibt viele verschiedene Möglichkeiten, wie es zur Entstehung eines Buches kommt, aber eher ungewöhnlich ist, wenn der Beginn in einer simplen Frage nach dem Weg besteht. Der französische Comic-Zeichner Emmanuel Guibert (»Der Fotograf«, »Ariol«) hatte sich auf der Ile de Ré an der französischen Atlantikküste verlaufen und fragte einen Einheimischen, wie er zurück finde. Daraus ergab sich ein Gespräch, aus dem Gespräch ergab sich ein weiteres Treffen, aus dem weiteren Treffen ergaben sich immer neue und schließlich die Idee zu einem gemeinsamen Projekt.

Emmanuel Guibert, Alans Kindheit, CoverDer Einheimische war im Grunde nur ein halber Einheimischer, denn er war Amerikaner, mit Namen Alan Cope, damals 69 Jahre alt. Guibert mochte von Beginn an Copes lebendige Erzählweise, und die nahe liegenden Erkundigungsfragen – warum verbringt ein Amerikaner seinen Lebensabend an der französischen Atlantikküste? – führten Cope rasch zu Erinnerungen aus seiner Lebensgeschichte. Guibert war fasziniert, von Copes einfacher, aber präziser Art ebenso wie von der Fülle der Erinnerungen, die sich lebensnah und spannend vor seinen Augen entfalteten. Guibert war schließlich derart gepackt, dass er Copes Talent und sein eigenes zusammenführen wollte: in einer Graphic Novel, die Copes Erzählton beibehalten und durch seine, Guiberts, Zeichnungen ergänzen sollte.

Um es gleich zu sagen: Es war eine hervorragende Idee, die Kombination furios gelungen. Text und Bilder gehen eine Einheit ein, die künstlerisch voller Bescheidenheit ist – d.h. ohne jedes Blendwerk, ohne Getue, ohne falsche Gefühle oder behauptete Dramen – und in ihrer Wahrheit und unprätentiösen Schönheit berührend und überzeugend. Insgesamt drei Graphic-Novel-Bände sind auf diese Weise entstanden, »Alans Kindheit« ist nach »Alans Krieg« der zweite von ihnen.

Cope, 1925 geboren, wuchs in den 30er Jahren in Kalifornien auf, und er erzählt von den Dingen, die seine Kindheit ausmachten, von den Kleinstädten mit ihren Holzhäuserreihen, von den Ausflügen nach Long Beach an endlosen Landschaften aus Ölbohrtürmen vorbei, von den Pfefferbäumen mit ihren langen Ästen, die Trauerweiden-artig bis zum Boden hängen und die man ohne Schwierigkeiten zu Schaukeln verknoten kann. Er erzählt von Familientreffen, bei denen es Leckereien gibt und bei denen man als Kind mysteriöse, unvollständige Einblicke in die Lebensgeschichten der anderen mit ihren freudigen oder dunklen Seiten bekommt, von Freuden und Tragödien des Alltags, von Spielen und dem Hauch erster Romanzen.

Meistenteils berichtet Alan Cope nichts Spektakuläres, sondern Alltagsgeschichten – und man folgt ihm gebannt. Die Erzählweise ist einerseits schlicht, andererseits voller überraschender, atmosphärisch dichter Einzelheiten. Und nah am Leben. Guibert hat fabelhaft recherchiert, er muss endlos historische Fotos aus dem Kalifornien der Zeit studiert haben, um Copes Erzählungen derart brillant und detailreich in begnadet ausdrucksstarke, realistische SW-Zeichnungen umsetzen zu können. Da überzeugt jeder Strich.

(Kleiner Vorausblick: In Kürze gibt es an dieser Stelle noch einen Guibert-Alan-Nachtrag.)

MICHAEL KLEIN