Großes Fernsehkino: Les Miserables (BBC 2019)

Vor einigen Wochen hatte ich das Vergnügen, in einem Kellerfund alter Fernsehzeitschriften aus den späten 60iger und frühen 70iger Jahren zu blättern – und man reibt sich dabei verdutzt die Augen. Die Selbstverständlichkeit, mit der seinerzeit mehrteilige Verfilmungen großer, klassischer Literatur die Hauptsendezeit bevölkerten, ist von unserer Gegenwart schier Lichtjahre entfernt. Man stelle sich die Reaktion heutiger Fernsehredakteure vor, wenn man ihnen die Verfilmung klassischer Werke von Dostojewski, Tolstoj, Maupassant, Twain, Stevenson oder Tschechow vorschlüge. Selbst der von mir so überaus geschätzte und in Deutschland (mit der einzigen Ausnahme von „Peter Pan“) so gut wie nicht zur Kenntnis genommene James M. Barrie erlebte damals eine kleine Blüte deutscher Fernsehproduktionen seiner Theaterstücke. Leider lag das vor meiner Zeit.

Ein Klassikerverfilmungs-Edelstein dieses Jahres kommt aus England, wo der inzwischen über 80jährige Andrew Davies, in alter und frischer Form zugleich, vorführt, was die Welt durch formidable Literaturverfilmungen gewinnt. Vor zwei Jahren hat er eine mitreißend gelungene, sechsteilige Neuverfilmung von Tolstojs „Krieg und Frieden“ auf die Beine gestellt, die sich im deutschen Free-TV-Hauptabendprogramm als Erstpräsentation exzellent gemacht hätte (aber siehe oben), nun hat er sich Victor Hugos Mammutwerk „Les Miserables“ angenommen – über sechs Stunden lang und faszinierend von Beginn an.

Andrew Davies' Les Miserables auf DVD und BluRayLes Miserables“ bzw. „Die Elenden“ ist ein großes, christlich-humanistisch geprägtes Prosa-Epos um den Ex-Sträfling Jean Valjean, den 19 Jahre Zwangsarbeit wegen eines Brotdiebstahls verhärtet haben. Für die Gesellschaft ist er ein „Verbrecher auf Lebenszeit“, aber die Begegnung mit einem Bischof, der den Geist des Evangeliums lebt, verändert Valjean tiefgreifend. Unter falschem Namen fasst er wieder Fuß und versucht, ein zurückgezogenes und menschenfreundliches Leben zu führen. Doch er hat einen Gegenspieler: den obsessiven Ordnungshüter Javert, dem die Prinzipien, Gesetze und Anordnungen einer überkommenen Zeit über jede Menschlichkeit gehen.

Der monumentale, zeitlose, einen erfreulich immensen Lesesog erzeugende Roman ist angesiedelt in den Wechselfällen der französischen Geschichte zwischen 1815 und 1834, ein Werk von positiv überbordender Handlungs- und Reflektionsfülle (der Umfang ist mehr als 1.000 Seiten stark), das an Dramatik, Kompositionskunst und Atmosphäre nichts zu wünschen übrig lässt. Psychologische und Handlungsspannung aufzubauen, um seinen Ideen und Idealen Ausdruck und Verbreitung zu schaffen – Victor Hugo gelang es vortrefflich.

Les Miserables“ ist vielfach verfilmt worden, und die Ausnahme-Qualität von Hugos Roman erweist sich unter anderem darin, dass es fast unmöglich ist, einen schlechten Film aus diesem Stoff zu kreieren. Die beste Verfilmung für unsere Zeit ist nun eindeutig die aktuelle BBC-Verfilmung. Andrew Davies feilt, konzentriert, variiert, Regisseur Tom Shankland und Kameramann Stephen Pehrsson finden dafür die beeindruckend weiten Bilder und die dichte Intensität des Schauspiels. Die Rolle des Javert wird überraschend von David Oyelowo, also einem Schwarzen verkörpert, was den Romankenner zunächst verwirrt, sich aber im Lauf der Adaption als findiger Kniff erweist, Blickgewohnheiten umzukehren. Davies scheut sich auch nirgends, die tiefe Düsterkeit des Stoffs auszuspielen, im Gegenteil, unter der packenden, durchweg hochspannenden Handlung lauert stets ein tiefer Pessimismus.

Andrew Davies’ „Les Miserables“ ist allergrößtes Fernsehkino, und auch das ist die Wirkung solcher Produktionen: Man bekommt sofort Lust, den Roman (wieder) zu lesen. In Großbritannien und den USA lief die Serie mit dem, was laut deutschen Sendern angeblich gar nicht möglich ist, nämlich „trotz“ hohen Niveaus und Literatur-Affinität breitem Erfolg bei Kritik und Publikum zugleich. Wer sich für die dunklen Herbstabende mit erstklassigem Lese- und Sehstoff versorgen will – und wer sich zudem daran erinnert, dass Letzteres einst einmal auch bei uns ein Standard war –, dem seien sowohl der Roman (beim Kauf auf eine ungekürzte Ausgabe achten!) als auch die BBC-Serie empfohlen. Die englische DVD und BluRay sind längst erschienen, die deutsche Fassung ist für den 15. November angekündigt.

MICHAEL KLEIN