Tom Sawyers und Huckleberry Finns Abenteuer (1968)

Aus der Reihe: Großes Fernsehkino

Ein Fernsehklassiker nach den Romanen von Mark Twain

Tom Sawyers und Huckleberry Finns Abenteuer (1968)

„Strenge lag ihr nicht“: Tante Polly (Lina Carstens) und Tom (Roland Demongeot)

Seit den mittleren 60iger Jahren bis in die frühen 80iger gab es im Programm des ZDF die allseits beliebte, erfolgreiche und aufmerksamkeitsträchtige Tradition der sogenannten Adventsvierteiler. Der Name leitete sich daher ab, dass die Produktionen fast immer in der Adventszeit ausgestrahlt wurden oder in manchen Fällen, da es sich um Vierteiler handelte, zumindest in ihr begannen. Die Geschichte dieser Tradition nahm bereits ihren Anfang, als das ZDF noch in den Kinderschuhen steckte und aus Holzbaracken sendete, und möglich wurde sie überhaupt erst durch die Freundschaft des deutschen Film- und Fernsehproduzenten Walter Ulbrich – „Unter den Brücken“ (1945), „Rose Bernd“ (1956), „Schwarzer Kies“ (1960) – mit dem ursprünglich aus Rumänien stammenden französischen Kollegen Henri Deutschmeister.

Die Idee von Ulbrich und Deutschmeister: große klassische Literatur in aufwändigen Adaptionen zu verfilmen, die sich visuell an den Maßstäben des Kinofilms, nicht des Fernsehens orientieren sollte, und so ausführlich erzählt, dass Zeit genug zur Verfügung stand, die Qualitäten der Vorlagen adäquat auszuspielen. Und das alles wäre, wie sich der damalige ZDF-Redakteur Stefan Barcava später erinnerte, ohne die enorme finanzielle und organisatorische Großzügigkeit Deutschmeisters undenkbar gewesen, der den Hauptbatzen der Produktionskosten stemmte.

Die Beteiligten – Ulbrich, Deutschmeister und Barcava – waren allesamt ausgesprochen Literatur-begeistert, diskutierten die Stoffe intensiv, und Barcava bekannte freimütig, man habe so manchen erbitterten inhaltlichen Zwist ausgefochten, aber stets verbunden mit höchstem Respekt, da man auch bei unterschiedlicher Meinung die Qualität und Ernsthaftigkeit der unterschiedlichen Standpunkte kannte und schätzte. 1964 hatte der erste Vierteiler von Deutschmeister und Ulbrich im ZDF Premiere: „Robinson Crusoe“ mit Robert Hoffmann in der Hauptrolle.

Tom Sawyers und Huckleberry Finns Abenteuer (1968)

Kolossaler Spaß schon bei den Dreharbeiten: Roland Demongeot und Marc di Napoli

Tom Sawyers und Huckleberry Finns Abenteuer“ war die vierte dieser Produktionen und wie beim Vorgänger „Die Schatzinsel“ (1966) entstand sie unter der künstlerischen Federführung von Walter Ulbrich, der in beiden Fällen das Drehbuch schrieb, mit dem Regisseur Wolfgang Liebeneiner zusammenarbeitete und die Montage selbst vornahm. (Einen Artikel über Roman und Vierteiler „Die Schatzinsel“ habe ich in der aktuellen Ausgabe 1/2021 der Zeitschrift „Kult!“ veröffentlicht.) Ulbrich, ein exzellenter Drehbuchautor, lebte förmlich in den Stoffen, die er adaptierte, legte großen Wert auf realistische Darstellung und wusste die Essenz der Vorlagen gekonnt zu greifen. In „Tom Sawyers und Huckleberry Finns Abenteuer“ zeigt sich das in der hohen Qualität des Off-Kommentars, der Mark Twains Tonfall glänzend trifft, in der gelungenen, passgenauen Hinzufügung zahlreicher Details aus Mark Twains Autobiographie sowie in der vollends durchdachten Adaption der beiden literarischen Vorlagen.

Ein Beispiel soll das Letztgenannte illustrieren: Mancher Leser der Romane wird sich wundern, dass lediglich das erste Drittel von „Huckleberry Finn“ im Vierteiler als Stoff aufgegriffen wird. Wer sich mit Mark Twain auskennt, weiß, dass er nach dem Abschluss von „Tom Sawyers Abenteuer“ inspiriert und mit Verve sogleich den Nachfolger begann und das besagte erste Drittel in einem Rutsch schrieb – und selbst sehr angetan davon war. Danach jedoch geriet seine Schreiblaune ins Stocken, das Manuskript lag lange Zeit, ohne dass ihm eine zündende Idee für seine Fortführung kam. Schließlich schrieb er den Mittelteil des Romans mit den burlesken Abenteuern um die Figuren Duke und King, der an die Klasse des Vorherigen nicht mehr wirklich heranreicht, und anschließend erlahmte die Arbeit schon wieder und noch hartnäckiger als zuvor. Nach längerer Pause hängte Mark Twain schließlich einen Schluss an, weil er – wie er später bekannte – schlicht Sorge bekam, dass der Roman andernfalls ewig Fragment bleiben würde. Dass der Schluss inhaltlich nur zweite Güte besaß, wusste Mark Twain, und er hat ihn selbst nicht besonders gemocht. Ulbrichs Entscheidung, den Vierteiler an früherer Stelle enden zu lassen, ist also wohlüberlegt und in seiner konkreten Ausführung bewundernswert überzeugend. Außerdem baute Ulbrich einige gelungene Szenen aus der zweiten Hälfte von „Huckleberry Finn“ in kluger Variation in die frühere Handlung ein, beispielsweise die Boggs-Episode. Ulbrichs Version erweist sich im Vergleich mit zahlreichen anderen Film- und Fernsehadaptionen als die mit Abstand beste Verfilmung des Stoffs.

Tom Sawyers und Huckleberry Finns Abenteuer (1968)

Grausiger Fund (Serge Nubret als Jim)

Gedreht wurde in Rumänien, und man darf feststellen: Die Donau machte sich als Darstellerin des Mississippi ausgezeichnet. Roland Demongeot und Marc di Napoli waren treffend besetzt, denn dass sie den Charakteren, die sie spielten, ungemein verwandt waren, bewies die Tatsache, dass sie der Arbeitsdisziplin ebenso widerspenstig gegenüberstanden wie die Figuren, die sie verkörperten. Lina Carstens gab eine großartige Tante Polly, und überhaupt kam hier durchweg ein prägnantes Schauspielerteam zusammen, zu dem nicht zuletzt Ernst-Fritz Fürbringer als Erzähler zählt, der Mark Twains Humor und Fabulierfreude allerfeinst zur Geltung brachte. Vieles Weitere wäre ausdrücklich noch zu loben, stellvertretend erwähnt sei die Musik des Filmkomponisten Vladimir Cosma, die von der beschwingten Mississippimelodie bis zum melancholischen Huckleberry-Finn-Thema die Atmosphären eindrucksvoll unterstreicht.

Die Erstausstrahlung im Dezember 1968 erfolgte jeweils an den Adventssonntagen ab 20:00 Uhr abends, denn die Verantwortlichen beim ZDF wussten, dass die humorvolle Sprache, die Lebensklugheit und der Anspielungsreichtum Mark Twains alterslos attraktiv waren und Jugendliche wie Erwachsene gleichermaßen begeistern würden. Das war ganz in Mark Twains Sinn, der die Romane für Erwachsene geschrieben hatte – erst sein Freund und Lektor William Dean Howells überredete ihn, sie als Bücher für Jugendliche zu bewerben, und er hatte ein schlagendes Argument: „Die Erwachsenen lesen sie doch sowieso.“

Die Prognose erwies sich bei den Romanen als zutreffend, und so wiederholte es sich mit dem Vierteiler, der sich allgemeiner Beliebtheit erfreute, Roland Demongeot und Marc di Napoli zu Stars ihrer Zeit machte und den Ruf, den sich die damals ja noch ganz junge Produktionsreihe zuvor auch schon mit der „Schatzinsel“ erworben hatte, zementierte. Später sollten innerhalb dieser Tradition übrigens noch weitere prächtige Literaturverfilmungen nach Drehbüchern Walter Ulbrichs und von seiner Produktionsfirma folgen, beispielsweise „Die Lederstrumpf-Erzählungen“ (1969) nach James Fenimore Cooper, „Der Seewolf“ (1971) und „Lockruf des Goldes“ (1975) – beide nach Jack London und in der Regie von Wolfgang Staudte – oder Robert Louis Stevensons „Die Abenteuer des David Balfour“ (1978).

Tom Sawyers und Huckleberry Finns Abenteuer (1968)

Unerfreuliches Wiedersehen (Marcel Peres als Hucks Vater)

Die vier Teile von „Tom Sawyers und Huckleberry Finns Abenteuer“ laufen am Montag, den 21.12., auf 3sat und sind in ihrer restaurierten Fassung schon jetzt in der 3sat-Mediathek abrufbar. Einziger kleiner Wermutstropfen: Wie bei den meisten heutigen Restaurationen wurde das Bild zu stark aufgehellt, in der Originalfassung waren die Nachtszenen wesentlich natürlicher und dunkler, was insbesondere in einem Fall eine eindrucksvolle Szene leider ruiniert: Im vierten Teil klettert der Streuner Huck nach einem nächtlichen Streifzug zurück in sein Zimmer bei der Witwe Douglas. Er entzündet eine Kerze – und erschrickt fürchterlich. Da sitzt sein unberechenbarer, oft grausamer Vater, zuvor von der nächtlichen Dunkelheit für ihn und die Zuschauer vollends verborgen. In der restaurierten, übertrieben aufgehellten Fassung wundert sich der Zuschauer hingegen über den dusseligen Huck, der seinen deutlich von Beginn an zu sehenden Vater absichtlich gar nicht zu beachten scheint und kurz später so tut, als wäre er fürchterlich erschrocken, obwohl er seinen Vater doch längst hätte erkennen müssen. Vielleicht könnte man diesen Schnitzer von Seiten des Senders vor der nächsten Wiederholung noch verbessern. Immerhin hat man mit diesem Vierteiler ein echtes Juwel im Programm und einen dieser Klassiker, die man als Zuschauer, obwohl man sie schon bestens kennt, trotzdem immer wieder neu mit Freude sieht.

 

Fotos mit freundlicher Genehmigung des ZDF

Michael Klein

 

Die Ausstrahlungszeiten, alle am 21.12.2020 (3sat)

Teil 1: 13:10-14:40 Uhr

Teil 2: 14:40-16:05 Uhr

Teil 3: 16:05-17:30 Uhr

Teil 4: 17:30-19:00 Uhr

 

Und weil es so schön ist, zeigt 3sat auch die beiden eben erwähnten Adventsvierteiler „Die Lederstrumpf-Erzählungen“ und „Die Schatzinsel“, hierzu die Ausstrahlungsdaten:

 

Die Lederstrumpf-Erzählungen

22.12.2020 (3sat)

Teil 1: Der Wildtöter, 13:00-14:30 Uhr

Teil 2: Der letzte Mohikaner, 14:30-15:50 Uhr

Teil 3: Das Fort am Biberfluss, 15:50-17:25 Uhr

Teil 4: Die Prärie, 17:25-19:00 Uhr

 

Die Schatzinsel

23.12.2020 (3sat)

Teil 1: Der alte Freibeuter, 13:10-14:35 Uhr

Teil 2: Der Schiffskoch, 14:35-16:00 Uhr

Teil 3: Das Blockhaus, 16:00-17:35 Uhr

Teil 4: Die Entscheidung, 17:35-19:00 Uhr

Großes Fernsehkino: Les Miserables (BBC 2019)

Vor einigen Wochen hatte ich das Vergnügen, in einem Kellerfund alter Fernsehzeitschriften aus den späten 60iger und frühen 70iger Jahren zu blättern – und man reibt sich dabei verdutzt die Augen. Die Selbstverständlichkeit, mit der seinerzeit mehrteilige Verfilmungen großer, klassischer Literatur die Hauptsendezeit bevölkerten, ist von unserer Gegenwart schier Lichtjahre entfernt. Man stelle sich die Reaktion heutiger Fernsehredakteure vor, wenn man ihnen die Verfilmung klassischer Werke von Dostojewski, Tolstoj, Maupassant, Twain, Stevenson oder Tschechow vorschlüge. Selbst der von mir so überaus geschätzte und in Deutschland (mit der einzigen Ausnahme von „Peter Pan“) so gut wie nicht zur Kenntnis genommene James M. Barrie erlebte damals eine kleine Blüte deutscher Fernsehproduktionen seiner Theaterstücke. Leider lag das vor meiner Zeit.

Ein Klassikerverfilmungs-Edelstein dieses Jahres kommt aus England, wo der inzwischen über 80jährige Andrew Davies, in alter und frischer Form zugleich, vorführt, was die Welt durch formidable Literaturverfilmungen gewinnt. Vor zwei Jahren hat er eine mitreißend gelungene, sechsteilige Neuverfilmung von Tolstojs „Krieg und Frieden“ auf die Beine gestellt, die sich im deutschen Free-TV-Hauptabendprogramm als Erstpräsentation exzellent gemacht hätte (aber siehe oben), nun hat er sich Victor Hugos Mammutwerk „Les Miserables“ angenommen – über sechs Stunden lang und faszinierend von Beginn an.

Andrew Davies' Les Miserables auf DVD und BluRayLes Miserables“ bzw. „Die Elenden“ ist ein großes, christlich-humanistisch geprägtes Prosa-Epos um den Ex-Sträfling Jean Valjean, den 19 Jahre Zwangsarbeit wegen eines Brotdiebstahls verhärtet haben. Für die Gesellschaft ist er ein „Verbrecher auf Lebenszeit“, aber die Begegnung mit einem Bischof, der den Geist des Evangeliums lebt, verändert Valjean tiefgreifend. Unter falschem Namen fasst er wieder Fuß und versucht, ein zurückgezogenes und menschenfreundliches Leben zu führen. Doch er hat einen Gegenspieler: den obsessiven Ordnungshüter Javert, dem die Prinzipien, Gesetze und Anordnungen einer überkommenen Zeit über jede Menschlichkeit gehen.

Der monumentale, zeitlose, einen erfreulich immensen Lesesog erzeugende Roman ist angesiedelt in den Wechselfällen der französischen Geschichte zwischen 1815 und 1834, ein Werk von positiv überbordender Handlungs- und Reflektionsfülle (der Umfang ist mehr als 1.000 Seiten stark), das an Dramatik, Kompositionskunst und Atmosphäre nichts zu wünschen übrig lässt. Psychologische und Handlungsspannung aufzubauen, um seinen Ideen und Idealen Ausdruck und Verbreitung zu schaffen – Victor Hugo gelang es vortrefflich.

Les Miserables“ ist vielfach verfilmt worden, und die Ausnahme-Qualität von Hugos Roman erweist sich unter anderem darin, dass es fast unmöglich ist, einen schlechten Film aus diesem Stoff zu kreieren. Die beste Verfilmung für unsere Zeit ist nun eindeutig die aktuelle BBC-Verfilmung. Andrew Davies feilt, konzentriert, variiert, Regisseur Tom Shankland und Kameramann Stephen Pehrsson finden dafür die beeindruckend weiten Bilder und die dichte Intensität des Schauspiels. Die Rolle des Javert wird überraschend von David Oyelowo, also einem Schwarzen verkörpert, was den Romankenner zunächst verwirrt, sich aber im Lauf der Adaption als findiger Kniff erweist, Blickgewohnheiten umzukehren. Davies scheut sich auch nirgends, die tiefe Düsterkeit des Stoffs auszuspielen, im Gegenteil, unter der packenden, durchweg hochspannenden Handlung lauert stets ein tiefer Pessimismus.

Andrew Davies’ „Les Miserables“ ist allergrößtes Fernsehkino, und auch das ist die Wirkung solcher Produktionen: Man bekommt sofort Lust, den Roman (wieder) zu lesen. In Großbritannien und den USA lief die Serie mit dem, was laut deutschen Sendern angeblich gar nicht möglich ist, nämlich „trotz“ hohen Niveaus und Literatur-Affinität breitem Erfolg bei Kritik und Publikum zugleich. Wer sich für die dunklen Herbstabende mit erstklassigem Lese- und Sehstoff versorgen will – und wer sich zudem daran erinnert, dass Letzteres einst einmal auch bei uns ein Standard war –, dem seien sowohl der Roman (beim Kauf auf eine ungekürzte Ausgabe achten!) als auch die BBC-Serie empfohlen. Die englische DVD und BluRay sind längst erschienen, die deutsche Fassung ist für den 15. November angekündigt.

MICHAEL KLEIN