Christopher Ecker – Andere Häfen

Aus der Reihe: Bücher, die sich wirklich lohnen

   Christopher Ecker: Andere Häfen

   MDV, gebunden

Meister-Miniaturen in Serie

Schon der Beginn ist furios, denn obwohl – mehrfach kontrolliert! – alles in bester Ordnung zu sein scheint, wird uns als Lesern der Boden bereits nach wenigen Zeilen ein wenig unsicher. Ein Mensch will aus dem Haus gehen und würde es ganz gewiss auch tun, wären da nicht die jedermann hinlänglich bekannten Allerweltsbedenklichkeiten: Sind die Lichter auch alle aus? Die Fenster geschlossen? Ist der Wasserkocherstecker gezogen? Der Computer heruntergefahren? Hat man nichts vergessen? Gewissenhaft wird nachgesehen. Vor dem endgültigen Schließen der Haustür stellen sich dennoch erneut dieselben Fragen ein. Zur Sicherheit lieber noch einmal das Nachgesehene nachsehen? Für alle Fälle: ja. Beruhigend: Alles, wie es sein soll, also Aufbruch. Und an diesem Punkt endet die alltagsnahe Schilderung und die Situation schraubt sich plötzlich tief ins Abgründige. Der besagte Mensch ist nicht zu beruhigen. Durch eine (in den Text kurz eingeflochtene) Lebenserfahrung bis auf die Grundfesten irritiert, sind ihm jegliche Gewissheiten abhanden gekommen. Sind die Lichter denn wirklich alle aus? Und die Fenster tatsächlich geschlossen…

Christopher Ecker, Andere Häfen, TitelDas ist hinreißend geschrieben und heißt „Zum Geleit“, als rechte Einstimmung sozusagen mit Vorwortfunktion und Warnhinweis in einem: Wir sollten vor der Lektüre des Kommenden noch einmal überprüfen, ob alles am Platz und in Ordnung ist. Dreißig Zeilen lang ist dieser Text, eine Kürzestgeschichte. Der Erzählband „Andere Häfen“ von Christopher Ecker (1967 geboren, „Fahlmann“, „Die letzte Kränkung“, „Der Bahnhof von Plön“) besteht aus lauter Kürzestgeschichten, 87 Stück an der Zahl auf 200 Seiten, ihre Länge reicht von einer halben Seite bis zu drei voluminösen Ausreißern, die es auf über 10 bringen. Und wir betreten in ihnen eine Welt der Ungewissheiten, Rätselhaftigkeiten, grotesken Wendungen, Verdrehtheiten und Bizarrerien, in der mal spielerisch, mal bitterböse-düster, aber immer originell, fein fabuliert und mit leuchtendem oder schwarzem Humor alles ganz anders ist, als wir es kennen oder es uns erscheint. In Eckers Welt ist „Wasser das Gegenteil von umblättern“, und in kaleidoskopartigen Ausformungen, Varianten und Brechungen geht es bekannten Erzählkonventionen ebenso an den Kragen wie festgefügten Vorstellungen von Identität. Ein durchgängiges Motiv ist die Auflösung der Wirklichkeit, wie wir sie kennen, ja die Grundsatzfrage, ob oder inwieweit es unsere Wirklichkeit eigentlich gibt, wie weit – oder genauer: wie wenig weit – sie reicht. Das nimmt alptraumhafte, kafkaeske, märchenhafte oder frei verspielte Züge an und zielt weiter ins Grundsätzliche.

Wir lesen zum Beispiel die Lebensgeschichte eines jungen Märchens („der Vater ist ein sehr strenges Märchen mit religiöser Moral und seine Mutter ein eher weitschweifiges Märchen voller unlogischer Wendungen“), die aus den verworrenen Teenagerjahren auf traurigen Pfaden in den Schreckenskeller eines Uhrmachers führt – ein finsterer, gleichwohl vergnüglich-aberwitziger Text, der uns in seinem grandiosen Einfallsreichtum die beliebte Schlusswendung zum Happy-End vorenthalten muss. Ein Mieter sieht sich bei einer Wohnungsabnahme überraschend einem Heer von Vermietern gegenüber – und auch er nimmt schließlich ein schlimmes Ende. In einer anderen Geschichte geht es um einen Film, in dem zwei Bundeswehr-Feldwebel Blutwurst aus Eigenblut herstellen und verzehren – wie es ausdrücklich heißt: nach einer wahren Begebenheit. Und nach Jahrzehnten tritt einem anderen Protagonisten eine längst vergessene Frau noch einmal ins Leben – und verlässt es sogleich wieder, aber wie!

Gerne führen die Erzählungen ins Düstere, Abgründige und vollends Groteske, freilich tun sie das gleichzeitig unerbittlich wie mit augenzwinkerndem Humor, heiter-doppelbödigem Wahnwitz oder selbstironischen Einschüben („Sie unterbrach die Verbindung, warf das Handy, wie es eine Figur in Eckers Romanen getan hätte, aufs Sofa und ließ Badewasser ein“).

Eine Geschichte ist dann zu Ende gedacht, wenn sie ihre schlimmstmögliche Wendung genommen hat“, schrieb Friedrich Dürrenmatt einst. Bei Ecker bekommt man das par excellence. „Als hätte man mein Dasein über Nacht mit grotesken Kulissen ausgestattet“, erklärt eine Figur einmal ihre Befindlichkeit, und der Leser kann diese Eindrücke teilen, wenn er die „Anderen Häfen“ besegelt. Kürzestgeschichten verlangen vom Autor vor allem die Fähigkeit, Sachverhalte, Motive und Atmosphären ebenso schnell wie präzise auf den Punkt zu bringen. Ecker ist darin bestechend souverän. Das Buch ist – versprochen – ein Genuss.

Und weil es nichts Besseres gibt, als sich von derlei Einschätzungen ein eigenes Bild machen zu können, gibt es jetzt eine hocherfreuliche Nachricht: Der nächste Beitrag an dieser Stelle besteht, mit freundlichem Einverständnis des Autors, aus einem vollständigen Beispieltext aus diesem Buch.

MICHAEL KLEIN

 

Leo Tolstoj – Auferstehung

Aus der Reihe: Bücher, die sich wirklich lohnen

Leo Tolstoj: Auferstehung

Diverse Ausgaben

Es ist ein Roman von einer Klasse, die eine Kategorie für sich ist, und der Titel der Blog-Rubrik »Bücher, die sich wirklich lohnen« kann gar nicht angebrachter sein.

Leo Tolstoj, Auferstehung, CoverMoskau, Ende der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts. Der in seiner Jugend hochidealistische, durch gesellschaftliche Einflüsse, vornehmlich während seiner Militärzeit, moralisch etwas heruntergekommene Fürst Nechljudow wird als Geschworener zu Gericht berufen und erkennt allmählich in einer des Raubmordes angeklagten Edelprostituierten seine einstige Jugendliebe Katjuscha wieder. Jäh und nagend geht ihm während des Prozesses auf, dass sein eigenes zweifelhaftes Verhalten ihr gegenüber einst ihre tragische Lebensbahn zu einem gerüttelt Maß verursacht hat. Er hatte ihre aufrichtige, unschuldige Liebe ausgenutzt, sich brüsk – nicht zuletzt den Rangunterschied hervorkehrend – aus dem Staub gemacht und sie mit der sich herausstellenden Schwangerschaft alleingelassen.

Der Verlauf des Prozesses, der durch einen Lapsus der Geschworenen – sie halten die Angeklagte für unschuldig, begehen aber einen schwerwiegenden Formfehler – auf eine Verurteilung zu schwerer Zwangsarbeit hinausläuft (und Nechljudows Schuld damit verdoppelt), wird für den Fürsten zum Beginn eines sittlichen Erneuerungsprozesses.

Im Licht der individuellen Krise sieht er zudem die Gesellschaft als Ganzes in ungewohnter, scharfer Beleuchtung und erkennt deren ungerechte und unsolidarische Einrichtung. Weil Nechljudow begreift, dass seine Schuld größer ist als die Katjuschas und das Urteil eigentlich ihm selbst gelten sollte, folgt er ihr und teilt ihren Leidensweg nach Sibirien.

Dass Tolstoj in seinen Schilderungen hin und wieder zu einer zu deutlichen Schwarz-Weiß-Gegenüberstellung greift und manche konkrete politische Überlegung durchaus streitbar und in der einfältig anmutenden Überzeugung von der Wunderkraft des Neuen Testaments fragwürdig bleibt, mindert die grundsätzliche Kraft und Bedeutung dieses Werks nicht im mindesten. Es ist gerade die rigorose moralische Dimension in ihrem beharrlichen Insistieren, die diesem souverän komponierten, packenden Roman seine durchdringend-nachhaltige Konsequenz gibt.

Schön, handlich und gut übersetzt ist die hier abgebildete Insel-Taschenbuchausgabe mit Illustrationen von Theodor Eberle. Der Stoff wurde mehrfach verfilmt, sehr zu empfehlen ist die große, zweiteilige Version von Paolo und Vittorio Taviani aus dem Jahr 2001.

MICHAEL KLEIN

Hans Christian Andersen – Nur ein Spielmann

Aus der Reihe: Bücher, die sich wirklich lohnen

Hans Christian Andersen: Nur ein Spielmann

S. Fischer Verlag, gebunden

Hans-Christian Andersen, Nur ein SpielmannHans Christian Andersen (1805-1875) ist zwar mit seinen Märchen nachhaltig berühmt geworden – die beliebte Vokabel »unsterblich« bietet sich trotz nicht von der Hand zu weisender Ungenauigkeit an -, er selbst aber hatte stets gehofft, etwas – vermeintlich – viel Größeres, Bedeutenderes zu schaffen: im Roman oder für das Theater. Das sollte nicht unter den Tisch fallen. Und Andersens dritter, 1837 erschienener Roman »Nur ein Spielmann«, der im selben Jahr ins Deutsche übersetzt wurde und ihn hierzulande noch vor seinen Märchen weithin bekannt machte, liest sich verblüffend angenehm und ist voller Schönheiten, die wir auch an seinen Märchen lieben.

Es ist ein Liebesroman, der sich als konsequenter Nicht-Liebesroman entpuppt. Die Hauptfigur Christian ist ein physisch fragiler, mit einer überstarken, lebhaften Phantasie ausgestatteter junger Mann aus dem dänischen Svendborg, der hochbegabt das Geigenspiel erlernt und zum Künstler wie geboren zu sein scheint. In seiner unmittelbaren Nachbarschaft, freilich aus weitaus wohlhabenderer, höher gestellter Familie, wohnt die ein Jahr jüngere Naomi, deren Zauber Christian schon bei ihrer ersten Begegnung verfällt. Naomi ist anziehend, selbstbewusst, attraktiv, dominant, für Christian ein Wesen wie aus einer unbekannten, berauschenden Feenwelt. Er ist tief beeindruckt, und Naomi wird ihm fortan zum unauslöschlichen Liebesideal – der schwärmerischen Begeisterung Don Quijotes für seine Dulcinea nicht ganz unähnlich.

Denn Christians dauerhafte Liebe ist eine fixe Idee, nicht realitätsbezogen. Naomi – ungefordert von ihrem Schicksal, von ihrem Wohlstand gelangweilt – bleibt ein oberflächliches, nicht sehr mitfühlendes Ding, das mit Christians romantischen Träumereien ebenso wenig anfangen könnte wie er mit ihrem ungesättigten und deshalb ziemlich wahllosem Lebenshunger.

Hans Christian Andersen

Hans Christian Andersen, Gemälde von Christian Albrecht Jensen (1792–1870)

Andersen erzählt von Christians einseitiger, schwärmerischer Liebe, von seinem Verkanntwerden als Musiker und von Naomis wilden, orientierungslosen Streifzügen in die weite Welt: Es ist eine Chronik des logischen, beständigen Verfehlens, die in der zweiten Hälfte mit immer klüger ausgespielter Ironie ausgebreitet wird.

Und weil Andersen spannungssichernde Kunstgriffe nicht verschmäht, gar mit düsterem Suspense überrascht und die realistischen Schilderungen um geschickt eingewebte, lebendige Märchen- und Sagenmotive zu ergänzen weiß, folgt ihm der Leser bereitwillig und zeitweise gar mit äußerster Neugier.

Die Welt in Andersens Roman ist übrigens bereits erstaunlich klein. Fern ist 1837 noch die Großkonjunktur des Begriffs Globalisierung, und doch trifft sich die überschaubar kleine Gruppe handelnder Personen in immer wechselnder Konstellation ganz und gar zufällig mal in Wien oder Italien oder Paris wieder, als läge es entlang des Wanderwegs rund um Svendborg. Was nichts daran ändert, dass »Nur ein Spielmann« nicht zuletzt neugierig auf die anderen Romane Andersens machen darf, fünf weitere hat er geschrieben.

MICHAEL KLEIN

Gottfried Keller – Das Sinngedicht

Aus der Reihe: Bücher, die sich wirklich lohnen

Gottfried Keller: Das Sinngedicht

Diverse Ausgaben

Schandbarerweise werden ganze Schülergenerationen im völlig unpassenden Alter mit Gottfried Keller gequält. Wer sich vom Schock erholt und in späterer Zeit Zugang zu ihm sucht, entdeckt erfreut: Der Mann kann unsagbar gut erzählen, und bei genauerem Hinsehen – ganz und gar unverstaubt. Obendrein dieser liebevolle Blick für Frauen, für ihren Liebreiz – und mit welcher Leichtigkeit er das `rüberbringt!

Gottfried Keller Das Sinngedicht CoverEines seiner schönsten Bücher ist »Das Sinngedicht«, kein rasend begeisternder Titel, gewiss, aber dahinter verbergen sich lauter glückende und nichtglückende Liebesgeschichten, die munter und flott und mit blitzgescheitem Augenzwinkern erzählt sind.

Ausgangspunkt ist ein im Verstauben begriffener Wissenschaftler, der jäh von der Midlife Crisis gepackt wird und entsetzt bemerkt, dass ihm etwas fehlt im Leben: die Liebe. Und sofort stürzt er sich aufs Pferd und reitet in die Welt hinaus, um sich mit Neugier und den guten Dingen des Lebens zugetan unter weiblichen Wesen zu tummeln.

Hochvergnüglich und erfrischend – und wer Feuer fängt, lese gleich den »Landvogt von Greifensee« hinterher, das ist auch so ein abschreckender Titel und auch so ein tolles Buch dahinter.

Gottfried Keller und die Liebe – in seinem Leben war das übrigens eine Chronik kleiner Tragödien. In regelmäßigen Abständen verliebte er sich wild und ungestüm, und nie mit glücklichem Ende. Wenn mal wieder eine einsam-einseitige Anbetung jäh in Abfuhr und Zurückgestoßenwerden gemündet war, pflegte er sich zu besaufen, wahllos Menschen anzugiften und sich hernach von Sinnen zu prügeln – von solch sympathischen Charakterzügen hat uns der Deutschunterricht auch nichts erzählt, oder?

Michael Klein

D. H. Lawrence – Söhne und Liebhaber

Aus der Reihe: Bücher, die sich wirklich lohnen

D. H. Lawrence: Söhne und Liebhaber – Das Hörspiel

Der Hörverlag, 3 CDs

David Herbert Lawrence, Söhne und Liebhaber, Hörbuch Cover

D. H. Lawrence, Söhne und Liebhaber, Hörbuch

England gegen Ende des 19. Jahrhunderts. In der Bergbauregion um Nottingham lebt die Familie Morel: Walter, der Vater, ein ausgelaugter Bergarbeiter und Säufer, Gertrude, die bürgerlich erzogene und nach Höherem strebende Mutter. Alle Hoffnungen auf ein besseres und bedeutenderes Leben muss sie freilich in ihre Söhne William und Paul legen, deren Lebenswege sie mit sanfter Bestimmtheit mit zu bahnen sucht.

William scheint, als er erwachsen wird, tatsächlich zu gesellschaftlichem Erfolg und Ansehen zu gelangen. Doch als ihn ein Schicksalsschlag trifft, überträgt die Mutter alle Ambitionen auf den jüngeren, sensiblen Sohn Paul, der sich anschickt, ein begabter Kunstmaler und Designer zu werden.

Paul ist innerlich hin- und her gerissen zwischen widerstreitenden, ambivalenten Gefühlen zu drei Frauen. Seine engste Vertraute ist die junge, reine Miriam aus dem Nachbarort, mit der er über Kunst und Leben diskutieren kann und die seine künstlerische Arbeit inspiriert. An den Gesprächen mit der älteren Städterin Clara findet Paul, der bald die Zwanzig überschreitet, zwar nicht den gleichen Gefallen, doch strömt sie auf ihn eine betörende erotische Verlockung aus, die sie ihm immer wieder ungemein attraktiv and anziehend macht. Und doch bleibt da stets die enge Bindung zur Mutter, der er sich entziehen möchte und immer wieder doch nicht wirklich entziehen kann.

So sehr Paul versucht, zu innerer Klarheit und fester Orientierung zu gelangen, er pendelt in abrupten Stimmungswechseln und mit einer wachsenden, halb untergründigen Frustration in seinen Gefühlen zwischen diesen drei Frauen, ohne einen festen Platz im Leben finden zu können.

Die genannten Personen und Verhältnisse hat es sehr ähnlich tatsächlich gegeben, denn der 1913 erschienene Roman »Söhne und Liebhaber« von D. H. Lawrence (1885-1930, »Lady Chatterley«, »Liebende Frauen«) fußt auf autobiographischen Erfahrungen.

Ungemein zu empfehlen ist die Hörspieladaption von Helmut Peschina (Skript) und Ulrich Lampen (Regie), sie ragt aus dem heutigen Hörspieleinerlei erfreulich weit heraus. Die geschilderte Welt und ihre Figuren werden dem Hörer plastisch vor Augen gestellt, die Sprecherleistungen u. a. von Patrick Güldenberg als Paul und Anne Müller als Miriam sind glänzend. Zur konzentrierten, stimmigen, intensiven Atmosphäre tragen besonders auch Michael Rotschopf als Erzähler bei – der einen Tonfall findet, der den Hörer vier Stunden lang wahrlich zu packen vermag – sowie Jakob Diehl, dessen düster-elegische Streichquartett-Kompositionen den Ernst und die vorahnungsvolle Unausweichlichkeit des Stoffs brillant zur Geltung bringen. Hier stimmt wirklich alles.

Michael Klein

M. Vargas Llosa – Tanten können zauberhaft sein

Aus der Reihe: Bücher, die sich wirklich lohnen

Mario Vargas Llosa: Tanten können zauberhaft sein

Suhrkamp Verlag, gebunden und als Taschenbuch

»Tante Julia trug ein blaues Kleid, weiße Schuhe, war geschminkt und beim Friseur gewesen; sie lachte laut und freiheraus und hatte eine raue Stimme und freche Augen. Erst allmählich fiel mir auf, dass sie eine attraktive Frau war.«

Diese Entdeckung macht, auf den zweiten Blick zumindest, der junge Nachrichtenjournalist Mario aus Lima, dessen Tante – die Schwester der Frau seines Onkels – nach gescheiterter Ehe sich bei seinen Eltern einquartiert und je länger, je mehr dem jungen Mann mit ihrer Lebensfreude und Sinnlichkeit den Kopf verdreht.

Beide sind anfangs überrascht, dass es sie trotz Altersunterschied so sehr zueinander treibt, und weil man fürs erste eh nicht an eine gemeinsame Zukunft glaubt, lebt man die Liebelei der Gegenwart in stiller, aber nicht ungebrochener Heimlichkeit. Freilich: die Gefühle werden ernst, und Marios entsetzte Familie rüstet zur Gegenwehr gegen den aufkommenden Heiratswunsch.

In großer Erzählfreude und breitem Panorama brachte Nobelpreisträger Mario Vargas Llosa in »Tante Julia und der Schreibkünstler« die, wie er selbst sagt, weitgehend autobiographische Geschichte der Liebe des achtzehnjährigen Mario mit seiner 32jährigen Tante Julia zu Papier.

Der »Schreibkünstler« des Titels ist allerdings keineswegs er selbst – auch wenn er sich damals bereits als Autor erprobt und vom literarischen Leben in Paris träumt -, sondern der begnadet-exzentrische Schriftsteller Pedro Camacho, der voller Emphase und überzeugt von den künstlerischen Möglichkeiten dieser Form bei jenem Rundfunksender, für den Mario arbeitet, in immensem Arbeitspensum sämtliche Hörspiele schreibt, die Quotenhits seiner Zeit.

Genau genommen bekommt der Leser mit diesem Roman »two in one«: Zum einen die Liebesgeschichte, zum anderen – mit diesem Erzählstrang kapitelweise alternierend, eine Sammlung von Storys, die auf den Hörspielserien Camachos basieren und Helden haben, die allesamt so fünfzig, adlernasig, breitstirnig, von aufrechtem Charakter und gütigem Wesen sind, wie ihr Autor sich selbst sieht. Durch dieses Wechselspiel gewinnen beide Teile, und dass diese Storys durchaus reißerische Motive beinhalten und sich gerne des feinen, unterschätzten Prinzips des Cliffhangers bedienen, erhöht den Reiz der Lektüre, denn Llosa wandelt souverän auf der Grenze zwischen augenzwinkernder Ironie und echter Bewunderung für das dramatische Vergnügen.

Vor allem ist »Tante Julia und der Schreibkünstler«, Mitte der 70er Jahre geschrieben und bei uns vor einigen Jahren in glänzender Neuübersetzung von Thomas Brovot erschienen, ein Buch der ungezügelten Erzählfreude, voller humoristischer Passagen, verspielt, lebensnah, schwungvoll und großartig zu lesen.

Mitreißend gelungen ist übrigens auch eine Hörspieladaption dieses Romans von DRS 2 aus dem Jahr 2002, die bei uns als 10-CD-Box im Hörverlag erschienen ist. Unter der Regie von Claude Pierre Salmony brillieren André Jung, Herlinde Latzko und Christoph Bantzer.

Michael Klein

Ketil Bjørnstad – Die Aksel-Vinding-Trilogie 3

Aus der Reihe: Bücher, die sich wirklich lohnen

Ketil Bjørnstad: Die Frau im Tal

Insel Verlag, gebunden und als Taschenbuch

Das Leben am Grund des Flusses: Eigentlich hat der 19jährige Aksel Vinding, der angehende Klaviervirtuose, der soeben ein glänzendes Debüt hingelegt und am selben Tag seine große, von ihm schwangere Liebe, die depressive Marianne Skoog, durch Freitod verloren hat, die Nase vom Leben voll. Er steigt in jenen Fluss, in dem vor Jahren sich bereits seine Mutter das Leben genommen hat, lässt sich in die Unterströmung gleiten und ist bereits halb hinüber, als er sich schmerzhaft in etwas verfängt und an die Oberfläche gezogen wird. Ein Fischköder hat ihn aufgespießt, und sowohl für den Angler wie für den Sterbewilligen ist die Sache eine ziemliche Überraschung.

So beginnt Ketil Bjørnstads abschließender Teil seiner Aksel-Vinding-Trilogie, der Roman »Die Frau im Tal«. Und wer die beiden Vorgänger »Vindings Spiel« und »Der Fluss« gelesen hat, weiß hinlänglich und überzeugend Bescheid über Aksels Befindlichkeit.

Muss man diese beiden – großartigen – Romane gelesen haben, bevor man den dritten beginnt? Es ist nicht zwangsläufig nötig, aber ratsam. Aus doppeltem Grund: Bjørnstad ist versierter Erzähler genug, alles Wichtige des Vorhergehenden in kurzen, geschickt eingeflochtenen Rückblenden und Andeutungen zu erzählen, doch das Personal kann nicht neu erklärt werden und wer den Roman in allen seinen Tönen und Unterströmungen verstehen will, erhöht seinen Lesegenuss, wenn er mit dem ersten Band der Trilogie beginnt.

Zweitens nähme man sich die Freude, dem Geschehen chronologisch zu folgen – und da Bjørnstads Trilogie eine exzellente und hochlohnende Lektüre ist, wäre das bedauerlich.

Kann man die Handlung von »Die Frau im Tal« anerzählen, ohne allzu viel zu verraten? Nur soviel: Juni 1971 in Oslo, bei Mariannes Beerdigung sieht Aksel deren – in Nordnorwegen lebende – jüngere Schwester Sigrun zum ersten Mal, und verdutzt, zutiefst verwirrt und gleichzeitig im Innersten betört stellt er fest, wie sehr sie Marianne gleicht. Nach seinem glanzvollen Debüt plant Aksels Agent eine große Tournee, doch Aksel will nach dem Schicksalsschlag erst zu sich finden. Statt großer Karriere in Weltstädten entscheidet er sich für die Freiheit. Er will Rachmaninow studieren, an der Grenze zu Russland, in Nordnorwegen, wo Sigrun lebt, die seiner gerade gestorbenen toten Frau so ähnlich sieht.

Bjørnstads Figuren und Motive sind lebenswahr, dicht, vielschichtig und stimmungsvoll entwickelt. Obwohl »Die Frau am Fluss« nicht durchweg das so ungemein hohe Niveau und die volle Intensität seiner beiden Vorgänger zu halten vermag (manche Motive wiederholen sich, manche Nebenfigur bleibt Dekoration, mancher Dialog gerät papieren), folgt der Leser auch dem dritten Teil überwiegend gebannt. Tragisch, Abgrund-reich, auf eine besondere Weise aberwitzig und plausibel zugleich: Bjørnstads Trilogie ist prächtige Literatur! Der Stoff schreit im Übrigen förmlich nach einer (mehrteiligen) Verfilmung.

Michael Klein

Ketil Bjørnstad – Die Aksel-Vinding-Trilogie 2

Aus der Reihe: Bücher, die sich wirklich lohnen

Ketil Bjørnstad: Der Fluß

Insel Verlag, gebunden und als Suhrkamp Taschenbuch

Der erste Teil von Ketil Bjørnstads Aksel-Vinding-Trilogie, der Roman »Vindings Spiel«, macht es seinen Lesern nicht leicht: Eine gute Hundertschaft lediglich halbgelungener Seiten ist zu überstehen, bevor Bjørnstad seinen Stoff richtig in den Griff bekommt. Dann aber nimmt das Buch richtig Fahrt auf und entlohnt durch dichte und angenehm lebensernste weitere zweihundertfünfzig Seiten. Großartig. Es geht aber noch großartiger. In der Fortsetzung »Der Fluss« ist Bjørnstad von Beginn an in Hochform.

Norwegen im Sommer 1970. Der junge, hochbegabte Klavierstudent Aksel Vinding, mindestens in Grundzügen ein Alter Ego Bjørnstads, leidet unter dem Tod seiner Mutter, dem nachfolgenden Zerfall seiner Familie und nicht minder unter dem Tod der von ihm geliebten Freundin Anja Skoog, die an Magersucht gestorben ist.

Zwei schicksalhafte Zufälle wollen es nun, dass Aksel sich unvermutet und dauerhaft im Haus von Anjas Mutter Marianne Skoog einfindet, die Anjas Zimmer vermietet und ihr in Aussehen und Verhalten verblüffend ähnelt. Was Aksel zunehmend durcheinanderbringt: »Es ist Marianne Skoog, die den Weg herunterkommt, im grünen Anorak, verwaschenen Jeans und braunen, altmodischen Gummistiefeln. Auf zwanzig Meter Entfernung gleicht sie aufs Haar ihrer Tochter. Dann tritt sie gleichsam aus ihrer Jugend heraus, geht vorsichtig in meine Richtung, aber ohne mich zu sehen. Mit jedem Schritt wird sie älter, verliert aber nicht an Schönheit. Nur die Details werden deutlicher. Und ich weiß nicht, ob es das Dämmerlicht ist, das sie verzaubert, oder ob es meine Gefühle sind, die sich danach sehnen, die Lücke zu füllen. Ich verspüre einen Stich. Bald wird der Mond aufgehen. Ja, bald kommen komplizierte Nächte, denke ich. Aber ich bin innerlich voller Jubel.«

Zwei Hauptthemen hat dieser Roman. Das eine ist Aksel Vindings Grundfrage, wie er sein Leben gestalten soll. Er will Klaviervirtuose werden, gewiss, aber das Ausmaß an Askese und Konzentration, das es verlangt, zu den Besten der Besten zu gehören, ist ihm zugleich fragwürdig. Wie viel Lebensverzicht ist es wert, Erfolg zu haben? Hat seine Freundin Rebecca Frost recht, die ihm rät, die Freuden des Lebens nicht zu vernachlässigen? Die selbst die Ambitionen aufgegeben hat, weil sie weiß, dass sie lieber mittelmäßig und glücklich als Elite und getrieben ist?

Und da ist die ewige Lockung der Frauen, das zweite Grundthema in Aksel Vindings Bildungsgeschichte. Rebecca Frost, Freundin seit Jahren und prächtiger Kumpeltyp, liebt ihn und er sie irgendwie auch, aber zusammenkommen können sie nicht. Und da ist eben vor allem Anjas Mutter, der toten Tochter in Aussehen und Verhalten so frappant ähnlich, und im täglichen Zusammenleben – Aksel als Untermieter – ist die Versuchung, sich immer näherzukommen, allgegenwärtig.

Aus diesen Grundfragen und Spannungsverhältnissen, gepaart mit einem souveränen, realitätsgesättigten Stil, bezieht der Roman seine Kraft und seinen Sog. Nichts ist ohne Zwiespältigkeit in diesem Buch, mindestens so sehr wie um die Freuden des Lebens geht es um seine Schattenseiten, um Tod, innere Verwirrung, um das Verarbeiten von Trauer, um die Frage nach der Haltung zum Leben.

Und obendrein liest sich das auch noch spannend! Mit 18 Jahren, erzählt uns Aksel alias Ketil Bjørnstad, habe er, weil er sich noch so unerwachsen gefühlt habe, die großen Romane von Dostojewski und Tolstoj gelesen. Das ist eine exzellente Schule und erklärt mit, warum Bjørnstad hier ein so starkes Buch gelungen ist.

Die Kenntnis des Vorgängers ist übrigens nicht Vorbedingung für die Lektüre, weil sich die Zusammenhänge erschließen lassen und Bjørnstad hier und da geschickt kurze Reprisen einbaut. Man beraubt sich dann allerdings der überaus lohnenden Lektüre von »Vindings Spiel«.

Michael Klein

Ketil Bjørnstad – Die Aksel-Vinding-Trilogie 1

Aus der Reihe: Bücher, die sich wirklich lohnen

Ketil Bjørnstad: Vindings Spiel

Insel Verlag, gebunden und als Taschenbuch

Wüsste man nicht, welch glänzender Erzähler Ketil Bjørnstad ist, man käme in Versuchung, seinen neuen Roman »Vindings Spiel« früh zur Seite zu legen. Und wäre dann selber schuld.

Um einen jungen Klavierschüler im Norwegen der 60er Jahre geht es, um Aksel Vinding, der als Teen seine Mutter verliert, kein gutes Verhältnis zu Vater, Schwester und Schule hat und der sich emsig in das flüchtet, was ihm bleibt und was ihn mit der toten Mutter verbindet, deren Hoffnung er war: die klassische Musik, in der er es zu etwas bringen will.

Der Roman beginnt furios; gedrängt werden wir in die Lebensumstände einer Familie eingeführt, die noch Harmonie zu spielen versucht, wo die Brüche längst überdeutlich sind. Danach aber schwächelt das Buch eine ganze Weile vor sich hin. Mal wird es ein wenig platt, mal wird literarisch konstruiert statt lebenswahr erzählt. Und dann geschieht es eben doch: Der Autor findet seinen roten Faden, trifft plötzlich den richtigen Ton und lässt uns an seinen Figuren teilhaben.

»Vindings Spiel«, so der Titel, nimmt so recht Fahrt auf, als der verschlossene, ehrgeizige, gelegentlich überhebliche Aksel zunehmend in die Gruppe des vielversprechenden Nachwuchses unter den Klavierschülern des Landes integriert wird. Außer ihm sind es alles junge Frauen, und Bjørnstad spielt die verschiedenen Charaktere und die Spielarten der weiblichen Anmut geschickt aus – von der bodenständig-kumpelhaften Rebecca Frost über die erotisch zielstrebige Margarethe-Irene bis zur unnahbar-ätherisch scheinenden Anja Skoog. In ihnen spiegeln sich zugleich unterschiedliche Verhaltensweisen gegenüber dem immensen Druck und den geradezu erbarmungslosen Anforderungen der strengen Auslese in der Welt der klassischen Musik. Und Bjørnstad findet zu einer Wärme des Tons, zu berührenden Szenen und Formulierungen voll einfacher Schönheit, die zu erzählerischen Reflektionen über Kunst, Liebe, Erotik und Trauer kulminieren.

Bjørnstad verarbeitet in diesem Roman auch eigene Erfahrungen. Er hat selbst klassisches Klavier studiert und ist heute als glänzender Jazz-Pianist ebenso gefeiert wie als Schriftsteller.

Michael Klein