Hanjo Kesting: Schnee von gestern

Aus der Reihe: Bücher, die sich wirklich lohnen

Schnee von gestern, zeitlos
Neue Berichte aus den Chroniken der Belesenheit

„Schnee von gestern“ heißt ein Buch von Hanjo Kesting, das vor anderthalb Jahren erschienen und inzwischen schon gar nicht mehr sein neuestes ist. Aber man kann ein Buch, das einen solchen Titel trägt, nicht besprechen, wenn es noch ganz frisch ist, nicht wahr? Das wäre ein Widerspruch.

Noch bevor der Leser mit der Lektüre beginnt, drängt sich ihm die Frage auf, warum das Buch ausgerechnet „Schnee von gestern“ heißen mag. Schließlich ist dies doch ein offenkundig kommerziell gewagter Titel. Landläufig verbinden wir mit der Formulierung „Schnee von gestern“ etwas Verjährtes, mithin unbedeutend Gewordenes, etwas, das für uns kein Interesse mehr besitzt, weil es einer dahingeschmolzenen Vergangenheit angehört, ohne Spuren hinterlassen zu haben. Und das gilt in einer heutigen Zeit, die zu Hektik, Rasanz und schwindelnd gesteigerter Halbwertszeit neigt, noch mehr. Zur allgemeinen Neugier auf die Texte dieses Buches gesellt sich also eine zusätzliche offene Frage, denn es gibt weder ein Vor- noch ein Nachwort, das den Titel erklären würde. Andererseits versteht Hanjo Kesting, einer der profundesten Literaturkenner dieses Landes, Sprache viel zu gut, als dass man eine Ungeschicklichkeit unterstellen könnte.

"Schnee von gestern" und die Buchkassetten "Erfahren, woher wir kommen"

„Schnee von gestern“ und die drei Buchkassetten „Erfahren, woher wir kommen“

Der Band ist 500 Seiten schwer und enthält eine Sammlung von Texten zur Literatur und Geistesgeschichte. Ein klarer Schwerpunkt liegt auf Erkundungszügen durch die deutsche und internationale Literatur seit dem Ende des II. Weltkriegs, als Beispiele seien Martin Walser, Siegfried Lenz, Alfred Andersch, Raymond Carver oder John Updike genannt. Daneben gibt es einige Ausflüge zu Klassikern wie Daniel Defoe, Friedrich Nietzsche oder James Joyce. Eine zusammenhängende Darstellung ist es nicht, sondern Grundzüge eines Gesamtbilds aus dem Geist einzelner Mosaiksteine, die in der Summe über sich hinausweisen. Zugleich ist das Buch eine Art umfangreiches Supplement zu Kestings großen Literaturübersichten, vor allem natürlich den neun Bänden seiner Gesamtschau zur Literatur- und Geistesgeschichte mit dem übergreifenden Titel „Erfahren, woher wir kommen“.

„Man muss die Gegenstände, über die man schreibt, lieben, wirklich lieben“, formuliert Kesting in einem kurzen Grund-Credo auf dem Buchrücken, „ohne die kritische Distanz dabei einzubüßen.“ Das ist ein entscheidender Punkt, der erklärt, warum sich seine Texte so spannend lesen: Sie strahlen die Begeisterung der Lektüre aus, die Grundbegeisterung für die Literatur, nicht ein einziger Satz, in dem Kesting sich über einen Autor oder ein Buch erhebt; die Eitelkeit eines bestimmten Kritikertypus ist ihm fremd. Und das Ausmaß der Liebe wird auch in den Texten in ihren Abstufungen sichtbar. Diejenigen über Erich Maria Remarque, Erich Kästner oder Erich Fried besitzen einen ganz anderen Schwung als einer über Christoph Martin Wieland, um die Ausnahme eines weniger gelungenen Textes zu nennen. Am Ende der Lektüre fühlt man sich bereichert, vor allem aber neugierig gemacht auf konkrete Bücher und darüber hinaus weitergehende Lektüren. Der „Schnee von gestern“ glitzert also noch – ein Naturwunder.

Was hat es mit dem Titel auf sich? Gewiss sind viele Anlässe der Texte von gestern: einstige Bücherneuerscheinungen, Todes- und Gedenktage. Angesichts der großen, zeitüberdauernden Linien, die sich in ihnen spiegeln, passt „Schnee von gestern“ als Metapher der Vergänglichkeit in diesem Buch am besten zu Kestings Sätzen über Literaturkritik, über ihr Wesen und die allmähliche Abnahme ihrer Bedeutung. In einer Würdigung des großen Kritikers und Rhetorikers Marcel Reich-Ranicki heißt es: „Die Literaturkritik ist zwar nicht völlig verschwunden, aber als strukturiertes und qualifiziertes Instrument löst sie sich zunehmend auf. Der Beruf wird zu einer Sache von Spezialisten mit nur noch geringer Relevanz für die breitere Öffentlichkeit. Man kann es allerorten beobachten. Ihre Majestät die Literatur ist [aber] auch weiterhin darauf angewiesen, dass einzelne Menschen sich in Ruhe auf Bücher einlassen, besser: auf Literatur. Denn nur wenig, was als Buch gedruckt wird, gehört im emphatischen Sinn zur Literatur.“ Was Kesting hier (ursprünglich im Rundfunk 2013) feststellte, ist im seither vergangenen Jahrzehnt weiter vorangeschritten. In diesem Sinne mag der Titel auch etwas Wehmütiges haben.

Nimmt man die Summe von Kestings Büchern, durchmessen sie ein ausgedehntes literarisches Universum, Bildungslektüre im allerbesten Sinn, nicht lehrbuchhaft, sondern spannend vermitteltes Wissen. „Schnee von gestern“ fügt sich harmonisch in Kestings weitere Werke ein, die in der Summe eine umfangreiche veritable Literaturgeschichte in Einzeldarstellungen präsentieren, die sich von akademischen Werken darin unterscheidet, dass sie sich bei mindestens gleicher, aber allermeist höherer Substanz glänzend liest und den Bildungseffekt mit großer Unterhaltsamkeit kombiniert. „Delectare et prodesse“ (Erfreuen und Nützen) war ein kulturelles Leitbild der Lateiner, hier finden wir es für alle Literaturfreunde in Reinkultur.

Michael Klein

Hanjo Kesting: Schnee von gestern
Wehrhahn Verlag, Hannover, gebunden

Hanjo Kesting – Grundschriften der europäischen Kultur

Aus der Reihe: Bücher, die sich wirklich lohnen

Hanjo Kesting: Grundschriften der europäischen Kultur

Wallstein Verlag, 3 Bände, gebunden

Diesmal gibt es die »Bücher, die sich wirklich lohnen« sozusagen im Multipack, denn es geht um drei dicke Bände mit zusammen 1.200 Seiten in Kassette und um 50 »Bücher, die sich wirklich lohnen«, die darin beschrieben werden. In Zeiten der Krise, in denen der Osterurlaub ausfallen muss, sind Reisen des Geistes durch Zeiten und Räume gewiss keine schlechte Alternative.

Hanjo Kesting: Grundschriften der europäischen Kultur, 3 Bände in Kassette, Wallstein Verlag

Hanjo Kesting: Grundschriften der europäischen Kultur, 3 Bände in Kassette

Aber der Reihe nach. Der Schriftsteller Hanjo Kesting begann vor Jahren eine Vortrags- und Lesereihe, die zu einer Erfolgsgeschichte und bis heute thematisch immer wieder ergänzt und erweitert wurde: »Grundschriften der europäischen Kultur: Erfahren, woher wir kommen«. Ursprünglich für einen überschaubaren Saal in Hamburg geplant, sprach sich die Reihe wie auch ihre Qualität äußerst zügig herum, war schließlich Termin für Termin binnen Stunden ausverkauft, wechselte in größere Säle, wurde zusätzlich in Hannover und Lübeck gehalten, und weil sich das Zuschauerinteresse immer noch ausweitete, bald obendrein auch in Bremen und Oldenburg, nebst Übertragung im Rundfunk.

Worum geht es? Und warum dieser Erfolg? Hanjo Kesting stellt bedeutende Bücher und Schriften unseres kulturellen Herkommens vor, zentrale Texte aus Literatur und Philosophie von der Antike über Mittelalter und Renaissance bis zur Neuzeit. »Der oft beschworene Bildungskanon existiert nicht mehr«, heißt es in der Einleitung. »Die Griechen nannten das kulturelle Gedächtnis Mnemosyne, das heißt Erinnerung, und was das bedeutet, geht aus dem Umstand hervor, dass Mnemosyne die Mutter der neun Musen ist und damit das Fundament aller kulturellen Aktivitäten. Die Kultur gründet sich nicht nur auf das Gedächtnis, sie ist selbst dieses Gedächtnis. Als solches ist sie der Schauplatz unserer Selbstverständigung. Wenn wir diesen Schauplatz verlassen, leben wir im Zustand der Selbstvergessenheit.«

Kesting führt uns infolgedessen ausgiebig auf diesen Schauplatz, an dem wir u. a. dem Gilgamesh-Epos, Homers »Odyssee«, Vergils »Aeneis«, Ovids »Metamorphosen«, dem »Nibelungenlied«, den »Artus«-Geschichten, Dantes »Göttlicher Komödie«, Shakespeares »Hamlet«, Voltaire, Rousseau und Kant begegnen, schließlich Goethes »Reinecke Fuchs«, Marx’ und Engels »Kommunistischem Manifest« oder Nietzsches »Ecce homo«. Die Texte zu den einzelnen Büchern sind jeweils etwa fünfzig Seiten lang und setzen uns in Kenntnis über Inhalt des Werks, Umstände seiner Entstehung, Aspekte ihrer unterschiedlichen Interpretierbarkeit, zeitgeschichtliche Bedeutung und Wirkung sowie ihre Perspektivlinien bis in unsere Zeit.

Ein bisschen gelingt hier die Quadratur des Kreises: Auf der einen Seite erhält der Leser einen Schnellkurs in entscheidende Entwicklungen der Literatur- und Geistesgeschichte, auf der anderen Seite sind die Darstellungen veritable, umfassende Einführungen, fundiert, punktgenau, facettenreich. Das liegt am Miteinander aus profundem Wissen, Gedrängtheit, Erzählfreude und Anschaulichkeit, das den Leser gleich ins Zentrum der Themen führt und ihm umständliche Umwege oder methodisch-akademische Abstraktheiten erspart.

Noch einen Grund gibt es, warum diese Einführungen so gelungen sind: Sie sind frei von falscher Ehrfurcht, Patina und Staub werden nicht verwechselt, der Bedeutung der Werke wegen nicht Halt gemacht vor der Benennung ihrer schwachen oder verjährten Seiten. Und in jedem dieser Texte berührt Kesting die Grundfrage, was uns diese Bücher heute bedeuten und in welchem Licht sie aus moderner Erkenntnis und aus dem Blickwinkel unserer Gesellschaft betrachtet stehen.

Kestings Texte sind auf diese Weise exzellente, spannende Neugier-Wecker, die betreffenden Bücher erstmals oder erneut zu lesen und in ihnen überraschende Entdeckungen zu machen. Alle drei Bände in Kassette kosten zusammen erfreulich günstige 34.90 Euro. Und wer sich vorab für eine repräsentative Kostprobe interessiert, findet sie hier zu Immanuel Kants Schrift „Was ist Aufklärung“.

Michael Klein