„Lesen und Genesen“ u. a. mit James M. Barrie

Ursula Baumhauer (Hrsg.): Lesen und Genesen

Diogenes Verlag, Taschenbuch

Lesen und Genesen, hrsg. von Ursula Baumhauer, mit "Der kranke Logiergast" von James M. BarrieEs wäre ganz gewiss schön, wenn Literatur Wunder vollbringen könnte. Angesichts des Buchtitels „Lesen und Genesen“ stellt sich mir spontan das Bild eines Arztes vor Augen, der einem Kranken folgendes Rezept ausstellt: „Zwanzig Seiten eines Klassikers täglich, am Wochenende zusätzlich eine kräftige Dosis moderne Literatur, bitte nicht vergessen immer wieder einige Tropfen Lyrik, unverdünnt und ausführlich wirken lassen – das bringt Sie unfehlbar wieder auf die Beine.“ Erich Kästner hat eine Gedichtauswahl anno 1936 bekanntlich „Lyrische Hausapotheke“ genannt.

Lesen und Genesen“ heißt eine von Ursula Baumhauer (der Name strotzt vor Gesundheit) herausgegebene und zusammengestellte Textauswahl, in der es um Krankheit und Gesundung geht. Eine der prächtigen Erzählungen dieses Bandes ist „Ein kranker Logiergast“ von James M. Barrie, und das wird an dieser Stelle zuerst und besonders auffällig erwähnt, weil sich ihr Übersetzer darüber besonders freut. Sie ist der im Morio Verlag erschienenen deutschen Barrie-Erstausgabe „Wie meine Mutter ihr sanftes Gesicht bekam“ (2017) entnommen, und wem „Der kranke Logiergast“ heiteres, heilendes Vergnügen bereitet, findet in diesem Buch noch etliches Verlockende mehr in gleicher Qualität. Neugier darauf sei also guten Gewissens empfohlen.

Barrie würde sich übrigens wohl fühlen unter seinen Schriftstellerkollegen, die in der Summe eine große Bandbreite der Motive und Stile auffahren. William Somerset Maugham tischt zu Beginn eine kurze Diätkomödie auf, die in hemmungslos fulminanter Völlerei endet. Lebenswahr kurios der Zwischenstopp „Drei Stunden zwischen zwei Flügen“ von F. Scott Fitzgerald. Gekonnt schreibt George Watsky in „Welches Jahr haben wir?“ über das Erleben epileptischer Anfälle. Und der Wirbelsäulen-geplagte Cees Nooteboom schlägt aus dem Leiden trotzig komische Funken in der Ménage-à-trois „Doktor K., le docteur D. und ein hundertjähriger Rücken“. Weitere Sorgen und Freuden sind auf den insgesamt 270 Seiten des Buchs u. a. bei Benedict Wells, Banana Yoshimoto oder Bernhard Schlink zu entdecken. Die eindrucksvolle Titelillustration stammt von André Brasilier und gesellt sich zum zeitlos eleganten Aussehen der Diogenes-Bücher samt ihrer angenehmen Haptik.

MICHAEL KLEIN

Klassische Literatur im schönen Gewand, handverlesen von Michael Klein – zur Broschüre mit allen Titeln der Reihe im Morio-Verlag geht es hier.

Caroline Baldwin – Die Gesamtausgabe 1

Aus der Reihe: Comic-Klassiker & Klasse-Comics

André Taymans: Caroline Baldwin – Die Gesamtausgabe 1

Schreiber & Leser, gebunden

Andre Taymans, Caroline Baldwin, Gesamtausgabe 1, Schreiber & Leser

Caroline Baldwin, Gesamtausgabe 1

Die amerikanische Elektronikfirma Kristal Corporation ist in heller Aufregung. Frank White, ein ehemaliger NASA-Astronaut und Teilnehmer einer Mondlandung, ist ohne Nachricht oder Spur verschwunden. Als Repräsentant der Firma ist er dringend notwendig, gerade jetzt, da ein millionenschwerer Vertrag mit einem japanischen Partnerunternehmen unterzeichnet werden soll. White ist nirgends aufzufinden. Die Firma beauftragt die Detektei Wilson mit der Aufgabe, und diese setzt Caroline Baldwin auf den Fall an. Aber ist es ein Fall? Hat ein fieser Konkurrent von Kristal den Astronauten entführt? Oder hat sein Verschwinden ganz andere Hintergründe, an die noch niemand denkt? Caroline Baldwins Ermittlungen führen sie nach Venedig. Aber die Wahrheit weiß vielleicht nur der Mond…

Ihr frecher Kurzhaarschnitt, die mädchenhaften blauen Augen – zwischen tough und verletzlich – und die sternengleichen Sommersprossen sind ihr Markenzeichen: Caroline Baldwin, die junge New Yorker Privatdetektivin indianischer Abstammung, ist Kind und Frau zugleich, unerschrocken, selbstbewusst, zupackend einerseits und sensibel, verloren und immer ein bisschen überwältigt von der großen Welt und den Abgründen, die darin lauern, andererseits.

Caroline Baldwin, Astronaut am Abgrund, Cover

Caroline Baldwins erstes Abenteuer

»Astronaut am Abgrund« heißt der erste Fall Caroline Baldwins. André Taymans vielschichtige Geschichte voller Thrill, Romantik, Poesie und Melancholie ist brillant und die beste Episode einer ohnehin herausragenden Reihe. Graphisch ist sie eine Klasse für sich, beeinflusst von Altmeister Hugo Pratt (»Corto Maltese«) und der »ligne claire« der Hergé-Schule, dabei aber stilistisch eigenständig, der Erzählweise des Films verwandt und von starker, plastischer Farbgebung.

Der dieser Tage erschienene erste Band der Gesamtausgabe versammelt die ersten vier Caroline-Baldwin-Alben, und neben »Astronaut am Abgrund« ist darin vor allem „Kontrakt 48-A“ sehr zu empfehlen. Carolines Freund seit Kindertagen Mike, Waise und aufgrund einer angeborenen Behinderung im Rollstuhl sitzend (Carolines indianische Familie nannte ihn „Zwei Räder“), bittet sie, seiner Herkunft nachzuforschen. Über seine Eltern weiß er nichts, nur dass jemand anonym für ihn und seine Ausbildung monatlich einen Betrag ans Waisenhaus zahlte. Nichts als ein kleiner, schnell erledigter Freundschaftsdienst, denkt Caroline, doch kaum beginnt sie ihre Nachforschungen, sterben ihre anvisierten Gesprächspartner und Caroline begreift, dass sie selbst ins Visier mächtiger, unbekannter Gegenspieler geraten ist. Und das alles nur, weil Mike wissen will, wer seine Eltern waren?

Die Comicreihe »Caroline Baldwin« überzeugt mit ihrer exzellenten, modernen visuellen Gestaltung ebenso wie mit ihrem ausgeprägten Sinn für Atmosphären, psychologische Zwischentöne und die tieferen Dimensionen des Lebens. Klarer Fall: beeindruckend.

P.S.: Der zweite Band der Gesamtausgabe ist bereits für Juni angekündigt.

MICHAEL KLEIN

Tom Sawyers und Huckleberry Finns Abenteuer (1968)

Aus der Reihe: Großes Fernsehkino

Ein Fernsehklassiker nach den Romanen von Mark Twain

Tom Sawyers und Huckleberry Finns Abenteuer (1968)

„Strenge lag ihr nicht“: Tante Polly (Lina Carstens) und Tom (Roland Demongeot)

Seit den mittleren 60iger Jahren bis in die frühen 80iger gab es im Programm des ZDF die allseits beliebte, erfolgreiche und aufmerksamkeitsträchtige Tradition der sogenannten Adventsvierteiler. Der Name leitete sich daher ab, dass die Produktionen fast immer in der Adventszeit ausgestrahlt wurden oder in manchen Fällen, da es sich um Vierteiler handelte, zumindest in ihr begannen. Die Geschichte dieser Tradition nahm bereits ihren Anfang, als das ZDF noch in den Kinderschuhen steckte und aus Holzbaracken sendete, und möglich wurde sie überhaupt erst durch die Freundschaft des deutschen Film- und Fernsehproduzenten Walter Ulbrich – „Unter den Brücken“ (1945), „Rose Bernd“ (1956), „Schwarzer Kies“ (1960) – mit dem ursprünglich aus Rumänien stammenden französischen Kollegen Henri Deutschmeister.

Die Idee von Ulbrich und Deutschmeister: große klassische Literatur in aufwändigen Adaptionen zu verfilmen, die sich visuell an den Maßstäben des Kinofilms, nicht des Fernsehens orientieren sollte, und so ausführlich erzählt, dass Zeit genug zur Verfügung stand, die Qualitäten der Vorlagen adäquat auszuspielen. Und das alles wäre, wie sich der damalige ZDF-Redakteur Stefan Barcava später erinnerte, ohne die enorme finanzielle und organisatorische Großzügigkeit Deutschmeisters undenkbar gewesen, der den Hauptbatzen der Produktionskosten stemmte.

Die Beteiligten – Ulbrich, Deutschmeister und Barcava – waren allesamt ausgesprochen Literatur-begeistert, diskutierten die Stoffe intensiv, und Barcava bekannte freimütig, man habe so manchen erbitterten inhaltlichen Zwist ausgefochten, aber stets verbunden mit höchstem Respekt, da man auch bei unterschiedlicher Meinung die Qualität und Ernsthaftigkeit der unterschiedlichen Standpunkte kannte und schätzte. 1964 hatte der erste Vierteiler von Deutschmeister und Ulbrich im ZDF Premiere: „Robinson Crusoe“ mit Robert Hoffmann in der Hauptrolle.

Tom Sawyers und Huckleberry Finns Abenteuer (1968)

Kolossaler Spaß schon bei den Dreharbeiten: Roland Demongeot und Marc di Napoli

Tom Sawyers und Huckleberry Finns Abenteuer“ war die vierte dieser Produktionen und wie beim Vorgänger „Die Schatzinsel“ (1966) entstand sie unter der künstlerischen Federführung von Walter Ulbrich, der in beiden Fällen das Drehbuch schrieb, mit dem Regisseur Wolfgang Liebeneiner zusammenarbeitete und die Montage selbst vornahm. (Einen Artikel über Roman und Vierteiler „Die Schatzinsel“ habe ich in der aktuellen Ausgabe 1/2021 der Zeitschrift „Kult!“ veröffentlicht.) Ulbrich, ein exzellenter Drehbuchautor, lebte förmlich in den Stoffen, die er adaptierte, legte großen Wert auf realistische Darstellung und wusste die Essenz der Vorlagen gekonnt zu greifen. In „Tom Sawyers und Huckleberry Finns Abenteuer“ zeigt sich das in der hohen Qualität des Off-Kommentars, der Mark Twains Tonfall glänzend trifft, in der gelungenen, passgenauen Hinzufügung zahlreicher Details aus Mark Twains Autobiographie sowie in der vollends durchdachten Adaption der beiden literarischen Vorlagen.

Ein Beispiel soll das Letztgenannte illustrieren: Mancher Leser der Romane wird sich wundern, dass lediglich das erste Drittel von „Huckleberry Finn“ im Vierteiler als Stoff aufgegriffen wird. Wer sich mit Mark Twain auskennt, weiß, dass er nach dem Abschluss von „Tom Sawyers Abenteuer“ inspiriert und mit Verve sogleich den Nachfolger begann und das besagte erste Drittel in einem Rutsch schrieb – und selbst sehr angetan davon war. Danach jedoch geriet seine Schreiblaune ins Stocken, das Manuskript lag lange Zeit, ohne dass ihm eine zündende Idee für seine Fortführung kam. Schließlich schrieb er den Mittelteil des Romans mit den burlesken Abenteuern um die Figuren Duke und King, der an die Klasse des Vorherigen nicht mehr wirklich heranreicht, und anschließend erlahmte die Arbeit schon wieder und noch hartnäckiger als zuvor. Nach längerer Pause hängte Mark Twain schließlich einen Schluss an, weil er – wie er später bekannte – schlicht Sorge bekam, dass der Roman andernfalls ewig Fragment bleiben würde. Dass der Schluss inhaltlich nur zweite Güte besaß, wusste Mark Twain, und er hat ihn selbst nicht besonders gemocht. Ulbrichs Entscheidung, den Vierteiler an früherer Stelle enden zu lassen, ist also wohlüberlegt und in seiner konkreten Ausführung bewundernswert überzeugend. Außerdem baute Ulbrich einige gelungene Szenen aus der zweiten Hälfte von „Huckleberry Finn“ in kluger Variation in die frühere Handlung ein, beispielsweise die Boggs-Episode. Ulbrichs Version erweist sich im Vergleich mit zahlreichen anderen Film- und Fernsehadaptionen als die mit Abstand beste Verfilmung des Stoffs.

Tom Sawyers und Huckleberry Finns Abenteuer (1968)

Grausiger Fund (Serge Nubret als Jim)

Gedreht wurde in Rumänien, und man darf feststellen: Die Donau machte sich als Darstellerin des Mississippi ausgezeichnet. Roland Demongeot und Marc di Napoli waren treffend besetzt, denn dass sie den Charakteren, die sie spielten, ungemein verwandt waren, bewies die Tatsache, dass sie der Arbeitsdisziplin ebenso widerspenstig gegenüberstanden wie die Figuren, die sie verkörperten. Lina Carstens gab eine großartige Tante Polly, und überhaupt kam hier durchweg ein prägnantes Schauspielerteam zusammen, zu dem nicht zuletzt Ernst-Fritz Fürbringer als Erzähler zählt, der Mark Twains Humor und Fabulierfreude allerfeinst zur Geltung brachte. Vieles Weitere wäre ausdrücklich noch zu loben, stellvertretend erwähnt sei die Musik des Filmkomponisten Vladimir Cosma, die von der beschwingten Mississippimelodie bis zum melancholischen Huckleberry-Finn-Thema die Atmosphären eindrucksvoll unterstreicht.

Die Erstausstrahlung im Dezember 1968 erfolgte jeweils an den Adventssonntagen ab 20:00 Uhr abends, denn die Verantwortlichen beim ZDF wussten, dass die humorvolle Sprache, die Lebensklugheit und der Anspielungsreichtum Mark Twains alterslos attraktiv waren und Jugendliche wie Erwachsene gleichermaßen begeistern würden. Das war ganz in Mark Twains Sinn, der die Romane für Erwachsene geschrieben hatte – erst sein Freund und Lektor William Dean Howells überredete ihn, sie als Bücher für Jugendliche zu bewerben, und er hatte ein schlagendes Argument: „Die Erwachsenen lesen sie doch sowieso.“

Die Prognose erwies sich bei den Romanen als zutreffend, und so wiederholte es sich mit dem Vierteiler, der sich allgemeiner Beliebtheit erfreute, Roland Demongeot und Marc di Napoli zu Stars ihrer Zeit machte und den Ruf, den sich die damals ja noch ganz junge Produktionsreihe zuvor auch schon mit der „Schatzinsel“ erworben hatte, zementierte. Später sollten innerhalb dieser Tradition übrigens noch weitere prächtige Literaturverfilmungen nach Drehbüchern Walter Ulbrichs und von seiner Produktionsfirma folgen, beispielsweise „Die Lederstrumpf-Erzählungen“ (1969) nach James Fenimore Cooper, „Der Seewolf“ (1971) und „Lockruf des Goldes“ (1975) – beide nach Jack London und in der Regie von Wolfgang Staudte – oder Robert Louis Stevensons „Die Abenteuer des David Balfour“ (1978).

Tom Sawyers und Huckleberry Finns Abenteuer (1968)

Unerfreuliches Wiedersehen (Marcel Peres als Hucks Vater)

Die vier Teile von „Tom Sawyers und Huckleberry Finns Abenteuer“ laufen am Montag, den 21.12., auf 3sat und sind in ihrer restaurierten Fassung schon jetzt in der 3sat-Mediathek abrufbar. Einziger kleiner Wermutstropfen: Wie bei den meisten heutigen Restaurationen wurde das Bild zu stark aufgehellt, in der Originalfassung waren die Nachtszenen wesentlich natürlicher und dunkler, was insbesondere in einem Fall eine eindrucksvolle Szene leider ruiniert: Im vierten Teil klettert der Streuner Huck nach einem nächtlichen Streifzug zurück in sein Zimmer bei der Witwe Douglas. Er entzündet eine Kerze – und erschrickt fürchterlich. Da sitzt sein unberechenbarer, oft grausamer Vater, zuvor von der nächtlichen Dunkelheit für ihn und die Zuschauer vollends verborgen. In der restaurierten, übertrieben aufgehellten Fassung wundert sich der Zuschauer hingegen über den dusseligen Huck, der seinen deutlich von Beginn an zu sehenden Vater absichtlich gar nicht zu beachten scheint und kurz später so tut, als wäre er fürchterlich erschrocken, obwohl er seinen Vater doch längst hätte erkennen müssen. Vielleicht könnte man diesen Schnitzer von Seiten des Senders vor der nächsten Wiederholung noch verbessern. Immerhin hat man mit diesem Vierteiler ein echtes Juwel im Programm und einen dieser Klassiker, die man als Zuschauer, obwohl man sie schon bestens kennt, trotzdem immer wieder neu mit Freude sieht.

 

Fotos mit freundlicher Genehmigung des ZDF

Michael Klein

 

Die Ausstrahlungszeiten, alle am 21.12.2020 (3sat)

Teil 1: 13:10-14:40 Uhr

Teil 2: 14:40-16:05 Uhr

Teil 3: 16:05-17:30 Uhr

Teil 4: 17:30-19:00 Uhr

 

Und weil es so schön ist, zeigt 3sat auch die beiden eben erwähnten Adventsvierteiler „Die Lederstrumpf-Erzählungen“ und „Die Schatzinsel“, hierzu die Ausstrahlungsdaten:

 

Die Lederstrumpf-Erzählungen

22.12.2020 (3sat)

Teil 1: Der Wildtöter, 13:00-14:30 Uhr

Teil 2: Der letzte Mohikaner, 14:30-15:50 Uhr

Teil 3: Das Fort am Biberfluss, 15:50-17:25 Uhr

Teil 4: Die Prärie, 17:25-19:00 Uhr

 

Die Schatzinsel

23.12.2020 (3sat)

Teil 1: Der alte Freibeuter, 13:10-14:35 Uhr

Teil 2: Der Schiffskoch, 14:35-16:00 Uhr

Teil 3: Das Blockhaus, 16:00-17:35 Uhr

Teil 4: Die Entscheidung, 17:35-19:00 Uhr

Carl Jonas Love Almquist – Die Woche mit Sara

Aus der Reihe: Bücher, die sich wirklich lohnen

Carl Jonas Love Almquist: Die Woche mit Sara

Rororo, Taschenbuch

Wie angekündigt an dieser Stelle noch ein vierter Beitrag in der kleinen Reihe über die Liebe in klassisch gewordenen Novellen oder Kurzromanen, chronologisch gehen wir nach Joseph Conrads „Freya von den Sieben Inseln“ (1912), Henry Millers „Daisy Miller“ (1878) und Fjodor M. Dostojewskis „Weiße Nächte“ (1848) noch einmal ein knappes Jahrzehnt zurück und reisen im Geiste ins damalige Schweden.

Carl Jonas Love Almquist, Die Woche mit Sara, Titel

Titel der 2004 erschienenen gebundenen deutschen Ausgabe bei Kindler

Stockholm, an einem sonnigen Julitag in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts. Ein Dampfer legt ab, und unter der zufälligen Reisegesellschaft finden sich ein junger, ehrgeiziger Unteroffizier und eine junge, unaufdringlich stolze Schöne, deren Wege sich nicht vollständig unabsichtlich immer wieder kreuzen, denn man hat ein vorsichtiges Auge aufeinander geworfen.

Die Reiseziele der beiden führen eigentlich in unterschiedliche Richtungen, doch als man sich anzunähern beginnt und sich unausgesprochen einige Verliebtheit breitmacht, entscheidet der Unteroffizier kurzerhand über seine Route neu und stellt sich Fragen nach seinem zukünftigen Glück. Doch die junge Schöne erweist sich als – insbesondere für ihre Zeit – verblüffend emanzipiert, und das wunderschön entwickelte Liebesgespinst mündet im letzten Drittel des Buchs in eine lebenskluge Diskussion über Sinn und Zweck der Ehe.

Der 1839 erschienene Kurzroman „Die Woche mit Sara“ von Carl Jonas Love Almquist (1793-1866) ist ein verblüffend modernes Plädoyer für die Gleichberechtigung der Frau und gegen die, wie Almquist es sieht, Zwänge der Ehe, die ein freiwillig gewähltes Zusammensein in einen Zustand des Muss überführe, der der Harmonie auf Dauer oft nicht gut tue. Liebe in Freiheit sei etwas anderes als bindende Verpflichtung zum Zusammenleben. Das liest sich für einen Roman der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erstaunlich kühn und durchaus klug, ist aber natürlich auch diskutabel und nicht alles, was Almquist darüber ausbreitet, ist frei von Beschönigung und Naivität. Zum besseren Verständnis sei deshalb angefügt, dass im Schweden seiner Zeit die Eheschließung noch mit der Entmündigung der Frau einherging, die dem Mann fortan unterstand.

Von den „Stützen der Gesellschaft“ seiner Zeit hatte Almquist keine hohe Meinung, und seine satirischen Porträts der „oberen Zehntausend“ oder derer, die gerne zu ihnen gehören wollen, lassen noch heute ob ihrer Charakterisierungen schmunzeln. Die bessere Gesellschaft hat sich dann freilich gerächt, dem Skandal eines Romans, in dessen Mittelpunkt eine Frau steht, die Sanftheit mit Selbständigkeit paart, folgte eine breite Rufmordkampagne, die den Autor unmöglich machen und ihn auch materiell in die Knie zwingen sollte. Natürlich ging Almquist nicht in die Knie, sondern ins Exil nach Amerika, später lebte er bis zu seinem Lebensende in Bremen. Der Roman, der seinerzeit solchen Aufruhr und solche Empörung verursachte, liest sich heute noch frisch und unverstaubt.

Michael Klein

 

Fjodor M. Dostojewski – Weiße Nächte

Aus der Reihe: Bücher, die sich wirklich lohnen

Fjodor M. Dostojewski: Weiße Nächte

Diverse Ausgaben

Nach Joseph Conrads „Freya von den Sieben Inseln“ (1912) und Henry Millers „Daisy Miller“ (1878) gehen wir in der kleinen Reihe über die Liebe in klassisch gewordenen Novellen oder Kurzromanen weitere 30 Jahre zurück. Und wir wechseln zugleich noch einmal den Schauplatz.

Fjodor M. Dostojewski 1847

Dostojewski zur Zeit, als er „Weiße Nächte“ schrieb (Porträt von Konstantin Alexandrowitsch Trutowski, 1847)

Ein heißer Sommer in St. Petersburg 1848. Die Stadt liegt halbverlassen; jeder, der es sich leisten kann, ist in die Sommerfrische abgereist. Ein kontaktscheuer, 26 Jahre alter angehender und erfolgloser Schriftsteller schlendert durch die Straßen, mit den Verhältnissen vertraut, doch ziellos, ungeschäftig, für sich bleibend. An diesem Abend wird er auf eine junge, hübsche Frau aufmerksam, die verloren an einem Kanalufer ins Wasser blickt. Nach langem Zögern spricht er sie an. Beide sind sie verschlossene Menschen, doch sobald sie sich gegenseitig ihre Scheuheit gestanden haben, empfinden sie rasch Zutrauen zueinander. Es scheint ihnen, als würden sie sich schon ewig kennen.

Nastenka – so heißt die junge Frau – erzählt dem jungen Schriftsteller ihren Kummer: Vor einem Jahr hat der Mann, den sie liebt, St. Petersburg verlassen (und gleichzeitig den Kontakt zu ihr abbrechen) müssen; in diesen Tagen – so haben sie es sich versprochen – soll er zurückkehren. Das Kanalufer ist der verabredete Treffpunkt. Wird er kommen?

Jeden Abend wartet Nastenka hier; und mit ihr alsbald der junge Dichter, der aufrichtig Anteil an ihr nimmt. Das Ausmaß dieses Anteils bereitet ihm aber zügig Probleme. Kein Zweifel, er beginnt sich in Nastenka bis über beide Ohren zu verlieben. Und Versuchungen treten an ihn heran: Soll er sich wünschen, dass der Fremde nicht käme? Soll er der manchmal zweifelnden Nastenka raten, nicht länger zu warten? Und als er begreift, dass er zwischen beiden zum Vermittler werden kann – soll er es gegen sein eigenes Interesse tun?

Dostojewskis Erzählung »Weiße Nächte« – die hellen, langen St. Petersburger Sommernächte sind gemeint, und die Lebenssituation des träumerischen, scheuen, jungen Schriftstellers ist der Dostojewskis zu jener Zeit sehr ähnlich – ist eine der unvergänglichen Liebesgeschichten der Weltliteratur und eine ideale Lektüre keineswegs nur für helle, lange Sommernächte. Sie ist in verschiedenen Ausgaben erhältlich, die schöne und unverstaubte Übersetzung von Hermann Röhl aus dem Jahr 1928 gibt es heute gebunden bei Anaconda bereits für 3.95 Euro.

Michael Klein

Henry James – Daisy Miller

Aus der Reihe: Bücher, die sich wirklich lohnen

Henry James: Daisy Miller

Diverse Ausgaben

Im letzten Beitrag an dieser Stelle sind wir dem Scheitern einer Liebe in Joseph Conrads Langerzählung „Freya von den Sieben Inseln“ aus dem Jahr 1912 gefolgt, in diesem und zwei nachfolgenden Beiträgen gehen wir der Liebe in drei weiteren Novellen oder Kurzromanen nach, wobei wir uns chronologisch abwärts bewegen.

Henry James, Daisy Miller, TitelIn Vevey in der Schweiz lernt der in Genf studierende, siebenundzwanzigjährige Amerikaner Frederick Winterbourne die junge, schöne Landsmännin Daisy Miller kennen. An Geld fehlt es ihrer Familie nicht, freilich gehört sie zur feinen Gesellschaft nicht wirklich dazu, ohne Stand und erlauchte Verwandtschaft. Dass der Familienwohlstand erarbeitet wurde und nicht angeboren ist, ist selbstverständlich ein Makel, ein noch schlimmerer ist ihre unbekümmerte Art, sich in Gesellschaft mit Herren zu zeigen. Auch Winterbourne ist zwar in Daisy sogleich verschossen und von ihr eingenommen, doch plagen ihn eifersüchtige Gedanken, die er als Etikette-Beobachtungen tarnt. Gewiss, Daisy kann für ihn nicht mehr als ein „Flirt“ sein, aber sein Ego kränkt sich permanent an der Anwesenheit anderer und besonders eines bestimmten Herrn in ihrer Nähe. Ist sie einfach nur derart unschuldig, dass sie sich der Folgen für ihr Ansehen nicht bewusst ist? Oder ist sie so frei, keine Rücksicht auf die Denkweisen der sie umgebenden Gesellschaft zu nehmen? Oder ist sie, so schön und rein sie auch aussieht, hinter ihrer natürlichen Fassade vergnügungs- und gefallsüchtig und gerne auch mal wirklich lasterhaft?

Winterbourne grübelt über derlei Fragen, sucht nach dem passenden Etikett, und als er es tatsächlich gefunden zu haben glaubt, gerät er sogleich in neue Zweifel, die sich ihm nicht mehr auflösen werden, denn Daisy segnet nach einer Infektionskrankheit überraschend das Zeitliche.

Henry James ist in diesem 1878 geschriebenen Kurzroman in seinem Element, die Welt der feinen europäischen Gesellschaft und die sich in sie mischenden Amerikaner, die mit Biss ausgelebten oder verachteten Verhaltensabstufungen der Etikette, dazu die Bespiegelungen der Figuren untereinander sind geschickt ausgespielte Motive. Während Winterbourne Daisy auszumachen sucht und kein rechtes Bild von ihr gewinnt (während James es mehrmals in seinen Formulierungen andeutet), ist sein Abtaxieren der jungen Frau genau das, was ihn selbst definiert. Die Erzählung kommt lange vermeintlich luftig-leicht daher, ist aber komplex in ihren Möglichkeiten und mündet in den offenen Raum eines abrupten tragischen Schlusses.

Auf dem Titel dieser antiquarisch erworbenen Ausgabe blickt uns Cybill Shepherd an. Wie kommt das? Peter Bodganovich hat den Stoff 1974 verfilmt – kein leichtes Unterfangen, denn das Entscheidende besteht nicht in einem Handlungsgerüst, sondern in Atmosphären, Andeutungen und Zwischentönen, die präzise getroffen werden wollen –, und Shepherd spielte die Titelrolle. Obwohl der Film starke Momente besitzt, wird er der Vorlage leider nur halb gerecht. Vor allem die langen Passagen ihrer einseitig überdrehten Geschwätzigkeit ruinieren gerade das, was die literarische Vorlage geschickt in der Schwebe hält. Weder der poetische Zauber, der auf der Illusion balanciert, noch das gestrenge Gespinst der Etikette werden wirklich plastisch.

Dennoch muss man dem häufig verrissenen Film zugute halten, dass einzelne Szenen trefflich gelangen, auch wenn sie das Ganze nicht zu tragen vermögen. Dass Bogdanovich und / oder sein Drehbuchautor Frederic Raphael (die sich über der Arbeit zerstritten) nicht naiv an den Stoff herangingen, beweisen z.B. einige schöne, James hinzugefügte Detaileinfälle. Die erste Einstellung zeigt uns aus erhabener Höhe im Tiefparterre eines Luxushotels am frühen Morgen einen einsamen Arbeiter den Boden putzen – die Kamera blickt von oben auf ihn herab, so wie wenig später die feine Gesellschaft, die hier gastiert und deren einzige Lebensaufgabe darin besteht, im Luxus zu leben und sich dabei nicht allzu sehr zu langweilen.

Michael Klein

Joseph Conrad – Freya von den Sieben Inseln

Aus der Reihe: Bücher, die sich wirklich lohnen

Joseph Conrad: Freya von den Sieben Inseln

Diverse Ausgaben

Joseph Conrad, Freya von den Sieben Inseln, TitelbildIn einem fernen Archipel der »östlichen Gewässer«, auf einer der »Sieben Inseln« lebt der Handelskapitän a. D. Nelson, genannt der »alte Nelson«, zusammen mit seiner schönen Tochter Freya auf einem Landstück, das er rechtmäßig gekauft hat und dessen er sich doch nicht wirklich sicher fühlt. Der alte Nelson hat seine Erfahrungen mit den Verwaltungen der Kolonialmächte gemacht und eine beinahe existenzielle Angst vor ihrer Willkür. Vor allem fürchtet er wie eine ständige Bedrohung die holländischen Behörden.

Wer die Romane und Novellen von Joseph Conrad (1857-1924, »Lord Jim«, »Herz der Finsternis«, »Nostromo«), des »größten Erzählers seiner Epoche«, wie Thomas Mann urteilte, kennt, weiß, dass in dieser Angst bereits der Keim einer Tragödie lauert. Freya liebt den tatkräftigen und in sie ebenfalls kreuzverliebten jungen Kapitän Jasper Allen, und ihrem Glück und gemeinsamen Seefahrertum auf Jaspers Brigg »Bonito« stünde gar nichts im Wege, gäbe es da nicht den holländischen Leutnant Heemskirk, Kommandant eines Kanonenboots.

Heemskirk ist böswillig, unbedeutend, farblos, aber dem Irrglauben verfallen, er habe Chancen bei Freya. Für den alten Nelson personifiziert er die ganze Allmacht der Behörden, und Heemskirk entgeht diese einschüchternde Wirkung auf Nelson keineswegs. Er beginnt, sie weidlich auszunutzen – und das Unheil nimmt seinen Lauf.

Conrad erzählt diese Geschichte, die 1912 als eine von drei langen Erzählungen in »Zwischen Land und See« erschien, mit ungeheurer Plastizität, dichter Atmosphäre und einer sich stetig steigernden Spannung. Gewiss, die Figuren bleiben ein wenig typenhaft und der erfahrene Leser hört hin und wieder ein leises Knirschen in der Konstruktion; wie so oft bei Conrad wird die Beleuchtung auch gelegentlich ins leicht Grelle gewendet. Aber das zentrale „Biedermann-und-die-Brandstifter“-Motiv ist überzeugend entwickelt: Das Verhängnis liegt im Versuch, mit dem Einnisten des dreisten Machtanspruchs Kompromisse eingehen zu wollen, statt ihm beizeiten die Stirn zu bieten – das ist zeitlos gültig.

Die Schauplätze, in der ruhigen See zwischen Borneo und Sumatra gelegen, kannte Conrad aus eigener Anschauung. Zwei Jahrzehnte lang war er zur See gefahren und durchkreuzte die betreffenden Gewässer zeitweise als Erster Steuermann eines Dampfers. Conrad hieß eigentlich Josef Konrad Korzeniowski, war ursprünglich Pole und erlernte die englische Sprache erst als Erwachsener – und wurde einer der bedeutendsten Autoren darin.

Michael Klein

Lady Teazer Torpedo

Im London des Jahres 1878 gibt es eine neue Freizeitbelustigung, die als vergnügliche Mode kräftig und rasch um sich begreift. So berichtet es jedenfalls Arthur Conan Doyle, gerade frisch 19 Jahre alt geworden, bei einem Besuch der Hauptstadt:

Arthur Conan Doyle, der Erfinder von Sherlock Holmes

Arthur Conan Doyle

Sie haben eine kleine Abscheulichkeit erfunden, die man ‚Lady Teazer Torpedo‘ nennt. Es handelt sich um eine bleifarbene Flasche, die ganz mit Wasser gefüllt ist. Drückt man auf die Flasche, spritzt ein Wasserstrahl heraus, und der Heidenspaß des Abends besteht hier darin, die Straße entlang zu laufen und jedem, Mann oder Frau, ins Gesicht zu spritzen. Alle sind mit so einem Ding bewaffnet, und niemand kann ihm entgehen. Gestern Abend war ich schlicht und ergreifend völlig durchnässt; und die gute Laune, mit der es alle aufnehmen, ist erstaunlich. Ich sah Damen zu einer Gesellschaft aus ihren Kutschen steigen, die nassgespritzt waren, und sie schienen großen Spaß daran zu haben.“

Ernster und unheilvoller geht es natürlich in Arthur Conan Doyles „Die Blutnacht von Manor Place“ zu, seine frisch gesammelten Erzählungen über wahre Verbrechen haben erste Kritiken eingefahren. „Arthur Conan Doyle war DER perfekte True-Crime-Autor“, schreibt Maurice Feiel im Literaturblog zwischen-den-zeilen.com, „sprachgewaltig, ehrlich, völlig authentisch.“ Und Ralf Julke stellt in der Leipziger Internetzeitung den Zusammenhang zu Doyles berühmtester Figur her: „Die Sherlock-Holmes-Geschichten waren auch deshalb so erfolgreich und beliebt, weil sie vor dem Hintergrund damaliger Polizeiarbeit regelrecht erfrischend wirkten. Warum, das macht nun auch dieser Band sichtbar, in dem Michael Klein vier wahre Fälle aus dem publizistischen Leben Arthur Conan Doyles versammelt.“

Arthur Conan Doyle - Die Blutnacht von Manor Place

 

Weitere Informationen gibt es hier, zur Verlagsvorschau bitte hier entlang, und die Bestellmöglichkeit finden Sie hier.

Zeichen und Wunder: Mikio Naruse

Während die japanischen Filmregisseure Yasujiro Ozu, Akira Kurosawa und Kenji Mizoguchi bereits in den 50er Jahren schon über die Grenzen Japans hinaus als Filmgrößen wahrgenommen wurden und von internationalen Festivals wichtige Auszeichnungen mit sich nahmen, blieb Mikio Naruse (1905-1969, in japanischer Namensstellung Naruse Mikio) außerhalb Japans weitgehend unbekannt. Angesichts der Qualität seiner Filme ist das ein Rätsel.

Gründe, die in Naruses Persönlichkeit liegen, mögen da auch eine Rolle gespielt haben. Er war ein zurückhaltender, bescheidener, die Öffentlichkeit scheuender Mensch, keiner, der Aufhebens von sich machte oder gerne im Mittelpunkt stand. Er gab so gut wie nie Interviews. Eine grundlegende Ernsthaftigkeit war ihm eigen, mit Glanz, Glamour, Äußerlichkeiten, Marktgeschrei, Rang oder Ruhm konnte er wenig anfangen. Diese Uneitelkeit ist Teil seiner Größe; aber auch einer der möglichen Gründe dafür, dass er weniger wahrgenommen wurde. Wer schillert, ist besser zu sehen.

Mikio Naruse

Der japanische Filmregisseur Mikio Naruse in jungen Jahren

Immerhin: Unter Cineasten gewinnt sein Werk langsam, aber ungebrochen stetig immer mehr Beachtung. Dass Arte am Montag, den 3. August, seinen Film „Midaeru – Sehnsucht“ aus dem Jahr 1964 zeigt (und einen Monat lang, bis zum 31.8., wird er auch noch in der Arte-Mediathek zu sehen sein), sei ein willkommener Anlass, einige Worte über diesen Film zu verlieren.

Japan zu Beginn der 60er Jahre. Supermärkte mit Niedrigpreisen lösen die kleinen Einkaufsläden ab, die moderne Warenwelt befördert die Konsum- und Wohlstandskultur. Die Witwe Reiko (eine Glanzrolle von Hideo Takamine) ist nach dem Tod ihres Mannes im II. Weltkrieg bei dessen Familie geblieben und hat als treibende Kraft und Geschäftsführerin deren zerstörtes Lebensmittelgeschäft wieder aufgebaut. Doch als ein Verwandter den Plan entwickelt, der neuen Konkurrenz zu trotzen, indem man auf dem kundenfreundlich zentral gelegenen Grundstück des alten Ladens einen eigenen neuen Supermarkt errichtet, ist Reiko als vermeintliches Relikt des Alten und überflüssige Funktion im Weg.

 

Mikio Naruses „Sehnsucht“ ist bis zum 31.8. noch in der Arte-Mediathek zu sehen – zur Arte-Seite geht es hier.

 

Halb noch freundlich, halb schon drängend, aber undankbar zur Gänze wird ihr nahegelegt, zu heiraten oder andernorts ein neues Leben zu beginnen. Koji (Yuzo Kayama), der Sohn der Familie, eigentlich ein orientierungsloser, müßiggängerischer und dem Vergnügen verschriebener junger Mann, wehrt sich dagegen. Er hat einen unausgesprochenen emotionalen Grund: Seit langem liebt er Reiko, die Frau seines verstorbenen Bruders. Obwohl ein erheblicher Altersunterschied zwischen den beiden besteht (während Koji erst allmählich erwachsen wird, ist sie bereits eine reife Frau und wird bald dem Alter zugehen), fühlt er sich zu ihr hingezogen, und der Kontrast aus ständiger Nähe und Unerreichbarkeit quält ihn.

Das Spannungsfeld der unterschiedlichen Charaktere Reikos und Kojis, die zugleich für unterschiedliche Generationen und Wertvorstellungen stehen, und der gesellschaftlichen Umbruchsituation in den japanischen Städten lotet Naruse vielschichtig aus. Reiko ist treuer, arbeitsamer Familienmensch in Pflichtgefühl und Verantwortung, sie hält das Andenken an ihren verstorbenen Mann in Ehren (dass sie bei seiner Familie bleibt, findet seinen Grund auch darin, dass diese über seinen Tod hinaus ein Bindeglied zu ihm darstellt) und folgt einem klaren inneren Bezugssystem. Koji hingegen ist innerlich orientierungslos, charmant, aber auch verquer, zudem mitgeprägt als Teil einer jungen Generation, die erstmals in materieller Sicherheit und Wohlstand aufwächst und traditionelle Werte zunehmend in Ungebundenheit, Rebellion und eine Genussfreude auflöst, die freizügig und kurzfristig denkt.

Als Koji Reiko seine Liebe endlich gesteht, geht eine Veränderung in ihm vor, eine innere Anverwandlung ihrer Werte – der Taugenichts übernimmt Verantwortung für den Laden, er demonstriert Reiko, dass ihre Welten besser zueinander passen würden, als sie bisher wahrnehmen konnte. Reiko reißt all dies in einen Zustand der Verwirrung: die Tatsache, dass ihr Koji besser gefällt, als sie bewusst wahrhaben will; die Anzeichen, dass er es wirklich ernst meint, und die Frage, welche Zukunft diese Beziehung hätte; die Frage nach ihren inneren Werten; dazu die plötzliche, drängende wirtschaftliche Herausforderung durch die Supermärkte und die Versuche der sonstigen Verwandtschaft, sie aus der Familie grob hinauszukomplimentieren. Reiko ist zwischen plötzlichem Glück, Vorbehalten und Unsicherheit hin- und hergerissen, und Kojis jugendliches Drängen auf eine Entscheidung setzt ihr zu. Alles stürzt gleichzeitig auf sie ein und überfordert sie, jedenfalls in der Gedrängtheit und für den Moment. Es ist der Beginn einer Tragödie aus Unzeitigkeiten, die stets auf der Grenze zur glücklichen Lösung wandelt.

Furios gelungen ist das komplette letzte Drittel des Films. Von der Familie in die Enge argumentiert und als Flucht vor der eigenen Verwirrung entschließt sich Reiko, zu ihren an einem weit entfernten Ort wohnenden Eltern zurückzukehren. Die lange Bahnreise beginnt, kaum hat sich der Zug in Bewegung gesetzt, mit einer Überraschung: Koji wird sie begleiten. Er setzt sein Werben um sie fort. Und Mikio Naruse und seine Mitstreiter, allen voran Kameramann Jun Yasumoto und Komponist Ichiro Saito liefern ein grandioses Finale, in dem alle Motivstränge in faszinierenden Bildern, zu der die Schönheit der japanischen Landschaft beiträgt, und einer schlafwandlerisch sicheren, mitreißenden Montage zusammenlaufen.

Michael Klein

 

Frisch ausgepackt: „Die Blutnacht von Manor Place“ von Arthur Conan Doyle

Trotz der Corona-Krisen-Zeit, in der so viele Bücher verschoben werden müssen, ist das Erscheinen dieses Bandes sogar vorgezogen. Für September angekündigt, wird Arthur Conan Doyles „Die Blutnacht von Manor Place“ dieser Tage bereits an die Buchhandlungen ausgeliefert.

Ein Leben lang hat sich Doyle, der Autor von Sherlock Holmes, für wahre Verbrechen interessiert. Der Band »Die Blutnacht von Manor Place« versammelt – inklusiver zahlreicher Erstübersetzungen – Doyles beste „True Crime“-Stories.

Nach der deutschen Erstausgabe von „Der Fall Oscar Slater“ (2016 ebenfalls im Morio-Verlag) ermittelt Arthur Conan Doyle, der Autor von Sherlock Holmes, nun wieder:

In Romanen und Erzählungen lassen wir Leute reden und handeln, wie es unserer Vorstellung von Wahrscheinlichkeit entspricht. In der Realität reden und handeln sie jedoch, wie es niemand für wahrscheinlich halten würde. Das geht über menschliche Erfindungskraft hinaus.“

Arthur Conan Doyle

Arthur Conan Doyle studierte und analysierte wahre Verbrechen, schrieb über sie und machte sich, wann immer er das Recht beschädigt sah, für Unschuldige stark. Während es in den Erfindungen seiner Sherlock-Holmes-Romane und -Erzählungen darum ging, von vornherein alle Fragen für seinen Detektiv klar auflösbar zu konstruieren, faszinierten Doyle an den realen Fällen gerade die verbleibenden Rätselhaftigkeiten, die offenen kriminalistischen Fragen und die menschlichen, psychologischen und juristischen Abgründe.

Stimmen zu Arthur Conan Doyles „Der Fall Oscar Slater“

(ebenfalls von mir herausgegeben und kommentiert):

Diese reale Geschichte, die Conan Doyle hier als Faktensammlung schildert, ist so spannend wie ein Sherlock Holmes-Roman.“

Jo Müller, SWR

Ein wunderbares Buch, geeignet, über die mannigfaltigen Schwierigkeiten nachzudenken, die die Literatur mit der Realität so hat.“

Andreas Ammer, Bayerischer Rundfunk

Weitere Stimmen zum Buch gibt es hier.