Henry James – Daisy Miller

Aus der Reihe: Bücher, die sich wirklich lohnen

Henry James: Daisy Miller

Diverse Ausgaben

Im letzten Beitrag an dieser Stelle sind wir dem Scheitern einer Liebe in Joseph Conrads Langerzählung „Freya von den Sieben Inseln“ aus dem Jahr 1912 gefolgt, in diesem und zwei nachfolgenden Beiträgen gehen wir der Liebe in drei weiteren Novellen oder Kurzromanen nach, wobei wir uns chronologisch abwärts bewegen.

Henry James, Daisy Miller, TitelIn Vevey in der Schweiz lernt der in Genf studierende, siebenundzwanzigjährige Amerikaner Frederick Winterbourne die junge, schöne Landsmännin Daisy Miller kennen. An Geld fehlt es ihrer Familie nicht, freilich gehört sie zur feinen Gesellschaft nicht wirklich dazu, ohne Stand und erlauchte Verwandtschaft. Dass der Familienwohlstand erarbeitet wurde und nicht angeboren ist, ist selbstverständlich ein Makel, ein noch schlimmerer ist ihre unbekümmerte Art, sich in Gesellschaft mit Herren zu zeigen. Auch Winterbourne ist zwar in Daisy sogleich verschossen und von ihr eingenommen, doch plagen ihn eifersüchtige Gedanken, die er als Etikette-Beobachtungen tarnt. Gewiss, Daisy kann für ihn nicht mehr als ein „Flirt“ sein, aber sein Ego kränkt sich permanent an der Anwesenheit anderer und besonders eines bestimmten Herrn in ihrer Nähe. Ist sie einfach nur derart unschuldig, dass sie sich der Folgen für ihr Ansehen nicht bewusst ist? Oder ist sie so frei, keine Rücksicht auf die Denkweisen der sie umgebenden Gesellschaft zu nehmen? Oder ist sie, so schön und rein sie auch aussieht, hinter ihrer natürlichen Fassade vergnügungs- und gefallsüchtig und gerne auch mal wirklich lasterhaft?

Winterbourne grübelt über derlei Fragen, sucht nach dem passenden Etikett, und als er es tatsächlich gefunden zu haben glaubt, gerät er sogleich in neue Zweifel, die sich ihm nicht mehr auflösen werden, denn Daisy segnet nach einer Infektionskrankheit überraschend das Zeitliche.

Henry James ist in diesem 1878 geschriebenen Kurzroman in seinem Element, die Welt der feinen europäischen Gesellschaft und die sich in sie mischenden Amerikaner, die mit Biss ausgelebten oder verachteten Verhaltensabstufungen der Etikette, dazu die Bespiegelungen der Figuren untereinander sind geschickt ausgespielte Motive. Während Winterbourne Daisy auszumachen sucht und kein rechtes Bild von ihr gewinnt (während James es mehrmals in seinen Formulierungen andeutet), ist sein Abtaxieren der jungen Frau genau das, was ihn selbst definiert. Die Erzählung kommt lange vermeintlich luftig-leicht daher, ist aber komplex in ihren Möglichkeiten und mündet in den offenen Raum eines abrupten tragischen Schlusses.

Auf dem Titel dieser antiquarisch erworbenen Ausgabe blickt uns Cybill Shepherd an. Wie kommt das? Peter Bodganovich hat den Stoff 1974 verfilmt – kein leichtes Unterfangen, denn das Entscheidende besteht nicht in einem Handlungsgerüst, sondern in Atmosphären, Andeutungen und Zwischentönen, die präzise getroffen werden wollen –, und Shepherd spielte die Titelrolle. Obwohl der Film starke Momente besitzt, wird er der Vorlage leider nur halb gerecht. Vor allem die langen Passagen ihrer einseitig überdrehten Geschwätzigkeit ruinieren gerade das, was die literarische Vorlage geschickt in der Schwebe hält. Weder der poetische Zauber, der auf der Illusion balanciert, noch das gestrenge Gespinst der Etikette werden wirklich plastisch.

Dennoch muss man dem häufig verrissenen Film zugute halten, dass einzelne Szenen trefflich gelangen, auch wenn sie das Ganze nicht zu tragen vermögen. Dass Bogdanovich und / oder sein Drehbuchautor Frederic Raphael (die sich über der Arbeit zerstritten) nicht naiv an den Stoff herangingen, beweisen z.B. einige schöne, James hinzugefügte Detaileinfälle. Die erste Einstellung zeigt uns aus erhabener Höhe im Tiefparterre eines Luxushotels am frühen Morgen einen einsamen Arbeiter den Boden putzen – die Kamera blickt von oben auf ihn herab, so wie wenig später die feine Gesellschaft, die hier gastiert und deren einzige Lebensaufgabe darin besteht, im Luxus zu leben und sich dabei nicht allzu sehr zu langweilen.

Michael Klein

Joseph Conrad – Freya von den Sieben Inseln

Aus der Reihe: Bücher, die sich wirklich lohnen

Joseph Conrad: Freya von den Sieben Inseln

Diverse Ausgaben

Joseph Conrad, Freya von den Sieben Inseln, TitelbildIn einem fernen Archipel der »östlichen Gewässer«, auf einer der »Sieben Inseln« lebt der Handelskapitän a. D. Nelson, genannt der »alte Nelson«, zusammen mit seiner schönen Tochter Freya auf einem Landstück, das er rechtmäßig gekauft hat und dessen er sich doch nicht wirklich sicher fühlt. Der alte Nelson hat seine Erfahrungen mit den Verwaltungen der Kolonialmächte gemacht und eine beinahe existenzielle Angst vor ihrer Willkür. Vor allem fürchtet er wie eine ständige Bedrohung die holländischen Behörden.

Wer die Romane und Novellen von Joseph Conrad (1857-1924, »Lord Jim«, »Herz der Finsternis«, »Nostromo«), des »größten Erzählers seiner Epoche«, wie Thomas Mann urteilte, kennt, weiß, dass in dieser Angst bereits der Keim einer Tragödie lauert. Freya liebt den tatkräftigen und in sie ebenfalls kreuzverliebten jungen Kapitän Jasper Allen, und ihrem Glück und gemeinsamen Seefahrertum auf Jaspers Brigg »Bonito« stünde gar nichts im Wege, gäbe es da nicht den holländischen Leutnant Heemskirk, Kommandant eines Kanonenboots.

Heemskirk ist böswillig, unbedeutend, farblos, aber dem Irrglauben verfallen, er habe Chancen bei Freya. Für den alten Nelson personifiziert er die ganze Allmacht der Behörden, und Heemskirk entgeht diese einschüchternde Wirkung auf Nelson keineswegs. Er beginnt, sie weidlich auszunutzen – und das Unheil nimmt seinen Lauf.

Conrad erzählt diese Geschichte, die 1912 als eine von drei langen Erzählungen in »Zwischen Land und See« erschien, mit ungeheurer Plastizität, dichter Atmosphäre und einer sich stetig steigernden Spannung. Gewiss, die Figuren bleiben ein wenig typenhaft und der erfahrene Leser hört hin und wieder ein leises Knirschen in der Konstruktion; wie so oft bei Conrad wird die Beleuchtung auch gelegentlich ins leicht Grelle gewendet. Aber das zentrale „Biedermann-und-die-Brandstifter“-Motiv ist überzeugend entwickelt: Das Verhängnis liegt im Versuch, mit dem Einnisten des dreisten Machtanspruchs Kompromisse eingehen zu wollen, statt ihm beizeiten die Stirn zu bieten – das ist zeitlos gültig.

Die Schauplätze, in der ruhigen See zwischen Borneo und Sumatra gelegen, kannte Conrad aus eigener Anschauung. Zwei Jahrzehnte lang war er zur See gefahren und durchkreuzte die betreffenden Gewässer zeitweise als Erster Steuermann eines Dampfers. Conrad hieß eigentlich Josef Konrad Korzeniowski, war ursprünglich Pole und erlernte die englische Sprache erst als Erwachsener – und wurde einer der bedeutendsten Autoren darin.

Michael Klein

Lady Teazer Torpedo

Im London des Jahres 1878 gibt es eine neue Freizeitbelustigung, die als vergnügliche Mode kräftig und rasch um sich begreift. So berichtet es jedenfalls Arthur Conan Doyle, gerade frisch 19 Jahre alt geworden, bei einem Besuch der Hauptstadt:

Arthur Conan Doyle, der Erfinder von Sherlock Holmes

Arthur Conan Doyle

Sie haben eine kleine Abscheulichkeit erfunden, die man ‚Lady Teazer Torpedo‘ nennt. Es handelt sich um eine bleifarbene Flasche, die ganz mit Wasser gefüllt ist. Drückt man auf die Flasche, spritzt ein Wasserstrahl heraus, und der Heidenspaß des Abends besteht hier darin, die Straße entlang zu laufen und jedem, Mann oder Frau, ins Gesicht zu spritzen. Alle sind mit so einem Ding bewaffnet, und niemand kann ihm entgehen. Gestern Abend war ich schlicht und ergreifend völlig durchnässt; und die gute Laune, mit der es alle aufnehmen, ist erstaunlich. Ich sah Damen zu einer Gesellschaft aus ihren Kutschen steigen, die nassgespritzt waren, und sie schienen großen Spaß daran zu haben.“

Ernster und unheilvoller geht es natürlich in Arthur Conan Doyles „Die Blutnacht von Manor Place“ zu, seine frisch gesammelten Erzählungen über wahre Verbrechen haben erste Kritiken eingefahren. „Arthur Conan Doyle war DER perfekte True-Crime-Autor“, schreibt Maurice Feiel im Literaturblog zwischen-den-zeilen.com, „sprachgewaltig, ehrlich, völlig authentisch.“ Und Ralf Julke stellt in der Leipziger Internetzeitung den Zusammenhang zu Doyles berühmtester Figur her: „Die Sherlock-Holmes-Geschichten waren auch deshalb so erfolgreich und beliebt, weil sie vor dem Hintergrund damaliger Polizeiarbeit regelrecht erfrischend wirkten. Warum, das macht nun auch dieser Band sichtbar, in dem Michael Klein vier wahre Fälle aus dem publizistischen Leben Arthur Conan Doyles versammelt.“

Arthur Conan Doyle - Die Blutnacht von Manor Place

 

Weitere Informationen gibt es hier, zur Verlagsvorschau bitte hier entlang, und die Bestellmöglichkeit finden Sie hier.

Zeichen und Wunder: Mikio Naruse

Während die japanischen Filmregisseure Yasujiro Ozu, Akira Kurosawa und Kenji Mizoguchi bereits in den 50er Jahren schon über die Grenzen Japans hinaus als Filmgrößen wahrgenommen wurden und von internationalen Festivals wichtige Auszeichnungen mit sich nahmen, blieb Mikio Naruse (1905-1969, in japanischer Namensstellung Naruse Mikio) außerhalb Japans weitgehend unbekannt. Angesichts der Qualität seiner Filme ist das ein Rätsel.

Gründe, die in Naruses Persönlichkeit liegen, mögen da auch eine Rolle gespielt haben. Er war ein zurückhaltender, bescheidener, die Öffentlichkeit scheuender Mensch, keiner, der Aufhebens von sich machte oder gerne im Mittelpunkt stand. Er gab so gut wie nie Interviews. Eine grundlegende Ernsthaftigkeit war ihm eigen, mit Glanz, Glamour, Äußerlichkeiten, Marktgeschrei, Rang oder Ruhm konnte er wenig anfangen. Diese Uneitelkeit ist Teil seiner Größe; aber auch einer der möglichen Gründe dafür, dass er weniger wahrgenommen wurde. Wer schillert, ist besser zu sehen.

Mikio Naruse

Der japanische Filmregisseur Mikio Naruse in jungen Jahren

Immerhin: Unter Cineasten gewinnt sein Werk langsam, aber ungebrochen stetig immer mehr Beachtung. Dass Arte am Montag, den 3. August, seinen Film „Midaeru – Sehnsucht“ aus dem Jahr 1964 zeigt (und einen Monat lang, bis zum 31.8., wird er auch noch in der Arte-Mediathek zu sehen sein), sei ein willkommener Anlass, einige Worte über diesen Film zu verlieren.

Japan zu Beginn der 60er Jahre. Supermärkte mit Niedrigpreisen lösen die kleinen Einkaufsläden ab, die moderne Warenwelt befördert die Konsum- und Wohlstandskultur. Die Witwe Reiko (eine Glanzrolle von Hideo Takamine) ist nach dem Tod ihres Mannes im II. Weltkrieg bei dessen Familie geblieben und hat als treibende Kraft und Geschäftsführerin deren zerstörtes Lebensmittelgeschäft wieder aufgebaut. Doch als ein Verwandter den Plan entwickelt, der neuen Konkurrenz zu trotzen, indem man auf dem kundenfreundlich zentral gelegenen Grundstück des alten Ladens einen eigenen neuen Supermarkt errichtet, ist Reiko als vermeintliches Relikt des Alten und überflüssige Funktion im Weg.

 

Mikio Naruses „Sehnsucht“ ist bis zum 31.8. noch in der Arte-Mediathek zu sehen – zur Arte-Seite geht es hier.

 

Halb noch freundlich, halb schon drängend, aber undankbar zur Gänze wird ihr nahegelegt, zu heiraten oder andernorts ein neues Leben zu beginnen. Koji (Yuzo Kayama), der Sohn der Familie, eigentlich ein orientierungsloser, müßiggängerischer und dem Vergnügen verschriebener junger Mann, wehrt sich dagegen. Er hat einen unausgesprochenen emotionalen Grund: Seit langem liebt er Reiko, die Frau seines verstorbenen Bruders. Obwohl ein erheblicher Altersunterschied zwischen den beiden besteht (während Koji erst allmählich erwachsen wird, ist sie bereits eine reife Frau und wird bald dem Alter zugehen), fühlt er sich zu ihr hingezogen, und der Kontrast aus ständiger Nähe und Unerreichbarkeit quält ihn.

Das Spannungsfeld der unterschiedlichen Charaktere Reikos und Kojis, die zugleich für unterschiedliche Generationen und Wertvorstellungen stehen, und der gesellschaftlichen Umbruchsituation in den japanischen Städten lotet Naruse vielschichtig aus. Reiko ist treuer, arbeitsamer Familienmensch in Pflichtgefühl und Verantwortung, sie hält das Andenken an ihren verstorbenen Mann in Ehren (dass sie bei seiner Familie bleibt, findet seinen Grund auch darin, dass diese über seinen Tod hinaus ein Bindeglied zu ihm darstellt) und folgt einem klaren inneren Bezugssystem. Koji hingegen ist innerlich orientierungslos, charmant, aber auch verquer, zudem mitgeprägt als Teil einer jungen Generation, die erstmals in materieller Sicherheit und Wohlstand aufwächst und traditionelle Werte zunehmend in Ungebundenheit, Rebellion und eine Genussfreude auflöst, die freizügig und kurzfristig denkt.

Als Koji Reiko seine Liebe endlich gesteht, geht eine Veränderung in ihm vor, eine innere Anverwandlung ihrer Werte – der Taugenichts übernimmt Verantwortung für den Laden, er demonstriert Reiko, dass ihre Welten besser zueinander passen würden, als sie bisher wahrnehmen konnte. Reiko reißt all dies in einen Zustand der Verwirrung: die Tatsache, dass ihr Koji besser gefällt, als sie bewusst wahrhaben will; die Anzeichen, dass er es wirklich ernst meint, und die Frage, welche Zukunft diese Beziehung hätte; die Frage nach ihren inneren Werten; dazu die plötzliche, drängende wirtschaftliche Herausforderung durch die Supermärkte und die Versuche der sonstigen Verwandtschaft, sie aus der Familie grob hinauszukomplimentieren. Reiko ist zwischen plötzlichem Glück, Vorbehalten und Unsicherheit hin- und hergerissen, und Kojis jugendliches Drängen auf eine Entscheidung setzt ihr zu. Alles stürzt gleichzeitig auf sie ein und überfordert sie, jedenfalls in der Gedrängtheit und für den Moment. Es ist der Beginn einer Tragödie aus Unzeitigkeiten, die stets auf der Grenze zur glücklichen Lösung wandelt.

Furios gelungen ist das komplette letzte Drittel des Films. Von der Familie in die Enge argumentiert und als Flucht vor der eigenen Verwirrung entschließt sich Reiko, zu ihren an einem weit entfernten Ort wohnenden Eltern zurückzukehren. Die lange Bahnreise beginnt, kaum hat sich der Zug in Bewegung gesetzt, mit einer Überraschung: Koji wird sie begleiten. Er setzt sein Werben um sie fort. Und Mikio Naruse und seine Mitstreiter, allen voran Kameramann Jun Yasumoto und Komponist Ichiro Saito liefern ein grandioses Finale, in dem alle Motivstränge in faszinierenden Bildern, zu der die Schönheit der japanischen Landschaft beiträgt, und einer schlafwandlerisch sicheren, mitreißenden Montage zusammenlaufen.

Michael Klein

 

Frisch ausgepackt: „Die Blutnacht von Manor Place“ von Arthur Conan Doyle

Trotz der Corona-Krisen-Zeit, in der so viele Bücher verschoben werden müssen, ist das Erscheinen dieses Bandes sogar vorgezogen. Für September angekündigt, wird Arthur Conan Doyles „Die Blutnacht von Manor Place“ dieser Tage bereits an die Buchhandlungen ausgeliefert.

Ein Leben lang hat sich Doyle, der Autor von Sherlock Holmes, für wahre Verbrechen interessiert. Der Band »Die Blutnacht von Manor Place« versammelt – inklusiver zahlreicher Erstübersetzungen – Doyles beste „True Crime“-Stories.

Nach der deutschen Erstausgabe von „Der Fall Oscar Slater“ (2016 ebenfalls im Morio-Verlag) ermittelt Arthur Conan Doyle, der Autor von Sherlock Holmes, nun wieder:

In Romanen und Erzählungen lassen wir Leute reden und handeln, wie es unserer Vorstellung von Wahrscheinlichkeit entspricht. In der Realität reden und handeln sie jedoch, wie es niemand für wahrscheinlich halten würde. Das geht über menschliche Erfindungskraft hinaus.“

Arthur Conan Doyle

Arthur Conan Doyle studierte und analysierte wahre Verbrechen, schrieb über sie und machte sich, wann immer er das Recht beschädigt sah, für Unschuldige stark. Während es in den Erfindungen seiner Sherlock-Holmes-Romane und -Erzählungen darum ging, von vornherein alle Fragen für seinen Detektiv klar auflösbar zu konstruieren, faszinierten Doyle an den realen Fällen gerade die verbleibenden Rätselhaftigkeiten, die offenen kriminalistischen Fragen und die menschlichen, psychologischen und juristischen Abgründe.

Stimmen zu Arthur Conan Doyles „Der Fall Oscar Slater“

(ebenfalls von mir herausgegeben und kommentiert):

Diese reale Geschichte, die Conan Doyle hier als Faktensammlung schildert, ist so spannend wie ein Sherlock Holmes-Roman.“

Jo Müller, SWR

Ein wunderbares Buch, geeignet, über die mannigfaltigen Schwierigkeiten nachzudenken, die die Literatur mit der Realität so hat.“

Andreas Ammer, Bayerischer Rundfunk

Weitere Stimmen zum Buch gibt es hier.

Mario Schneider – Tourist

Glanz und Elend des Touristendaseins

Mario Schneider: Tourist

Mitteldeutscher Verlag, gebunden

Vielleicht gibt es keinen besseren Zeitpunkt für das Erscheinen dieses Fotobandes als den derzeitigen, in dem uns das, was die Bilder zeigen, vertraut und zugleich in weite Ferne gerückt zu sein scheint. »Tourist« heißt er, und sein Entree ist so gelungen wie der ganze Band: Auf dem Titel sehen wir den staunenden Blick zweier junger Damen angesichts eines verblüffend Imposanten (außerhalb des Bildes), auf der Rückseite beschäftigen sich im nebligen Venedig drei Touristenpaare mit sich und ihrer Selbstinszenierung für die eigene Kamera. Zwei Fotos, die ideal das Typische mit dem Besonderen verbinden, dabei vergnüglich sind und mit ihrer motivlichen Bandbreite die richtigen Erwartungen aufs Innere dieses Buchs wecken. Während Menschen ferne Welten entdecken, entdecken Mario Schneiders Fotografien wiederum sie, Protagonisten einer Sehnsucht, eines Erlebnishungers, einer Neugier, auch Opfer von Erwartungen, Darsteller in Selbstinszenierungen, ein Massentypus, aber in unfassbar vielen individuellen Ausprägungen.

Mario Schneider, Bildband "Tourist", Cover

In einer ganzen Hundertschaft origineller Abbildungen begegnen wir Momenten der Ausgelassenheit, Freude, Irritation, Leere, Müdigkeit, Verwunderung, Verblüffung, der Überdrüssigkeit, auch Momenten der Pose, witzig, traurig, vielgestaltig, immer menschlich. Mal sind es Sommerfreuden, mal Winterfreuden, es geht in Stadtlandschaften, schwindelnde Höhen oder Wüsten, eben noch Berlin, jetzt Paris oder Venedig. Die Situationen sind verspielt, kurios, rührend, absurd, grotesk, häufig menschliche Komödie, mit präzisen, aber auch wohlwollenden Augen betrachtet. Viele Fotos erzählen ganze Geschichten oder lassen auf mögliche Hintergründe schließen. Da ist der freudlose Blick in die Handykamera, als sei der ersehnte Urlaub aus Gründen, über die wir spekulieren können, lediglich eine trotzige Pflichtübung. Da sind Gesten oder Distanzen, die Bände sprechen. Da erahnen wir mögliche Handlungssequenzen, die uns überraschen oder ungemein vergnüglich sind.

Etliche der Fotos erzählen mögliche Geschichten

Und gar zu oft gehen die Blicke des modernen Touristen fehl: Sie suchen nicht das Original, sondern das Abbild. Das Handy, die Fotokamera, die Videokamera – man reckt und streckt sich, um ans oder ins rechte Bild zu kommen. Das Ich im Vorder-, das Motiv im Hintergrund – und doch ist es genau umgekehrt, bleibt das Ich der Statist und das Motiv der Hauptdarsteller. Je länger man die Fotos im Zusammenhang betrachtet, desto stärker öffnen sich die Reflektionsräume. Die Bilder werden ergänzt durch drei kleine Prosa-Erzählungen (von Jule Reckow, Mario Schneider und Maike Wetzel), die auf eigenem, andersfarbigem Papier gedruckt sind und mit Motiven nachfolgender Fotos zu korrespondieren scheinen, sowie einem Nachwort von Maike Wetzel, das die Atmosphären der Bilder im eigenen Stil der Autorin spiegelt. »Wir spielen ein schönes Leben. Wir sind nur zu Besuch«, heißt es darin. Und an anderer Stelle: »Wir rennen unserem Selfiestick hinterher, als wäre er eine Wünschelrute, die uns zu neuen Goldadern führt.«

Mario Schneider, Bildband "Tourist" Foto 2

Nicht inszeniert und doch eine perfekte Bildkomposition

An Mario Schneiders Fotos ist nichts gestellt, nichts inszeniert. Und doch wirken sie wohldurchdacht komponiert und perfekt austariert. Das ist, zum einen, der Lohn des ebenso genauen wie geduldigen Blicks Schneiders, der fein beobachtet, ohne je aufdringlich zu sein, der Komik und Tragik einfängt, ohne seine Foto-Protagonisten im Mindesten preiszugeben, ein Blick, der übrigens auch seine Dokumentarfilme (u. a. »Heinz und Fred«, »Akt«, »Uta«) auszeichnet. Zum anderen ist es das Ergebnis einer Auswahl aus Fotos, die im Lauf von zwei Jahrzehnten entstanden sind. Obendrein lockt eine wohldurchdachte Gestaltung, angefangen beim Vorsatzpapier, das in Optik und Haptik an den Bezug einer Sonnenliege erinnert – eine durchweg durchdacht konzipierte Zusammenstellung in toller Ausstattung, ein bis in jedes Detail mit Liebe gestaltetes Buch. In diesem Zusammenhang sei auch der erfrischend humorvolle und originelle Schlusspunkt erwähnt: Ein Wesen blickt ruhig, besonnen, würdevoll, unaufgeregt und ohne Handy oder Kamera aufs schiffbefahrene Meer. Nanu? Ort: der Felsen von Gibraltar. Es ist allerdings kein Tourist. Es ist – ein Äffchen! Es wohnt da.

MICHAEL KLEIN

Hanjo Kesting – Grundschriften der europäischen Kultur

Aus der Reihe: Bücher, die sich wirklich lohnen

Hanjo Kesting: Grundschriften der europäischen Kultur

Wallstein Verlag, 3 Bände, gebunden

Diesmal gibt es die »Bücher, die sich wirklich lohnen« sozusagen im Multipack, denn es geht um drei dicke Bände mit zusammen 1.200 Seiten in Kassette und um 50 »Bücher, die sich wirklich lohnen«, die darin beschrieben werden. In Zeiten der Krise, in denen der Osterurlaub ausfallen muss, sind Reisen des Geistes durch Zeiten und Räume gewiss keine schlechte Alternative.

Hanjo Kesting: Grundschriften der europäischen Kultur, 3 Bände in Kassette, Wallstein Verlag

Hanjo Kesting: Grundschriften der europäischen Kultur, 3 Bände in Kassette

Aber der Reihe nach. Der Schriftsteller Hanjo Kesting begann vor Jahren eine Vortrags- und Lesereihe, die zu einer Erfolgsgeschichte und bis heute thematisch immer wieder ergänzt und erweitert wurde: »Grundschriften der europäischen Kultur: Erfahren, woher wir kommen«. Ursprünglich für einen überschaubaren Saal in Hamburg geplant, sprach sich die Reihe wie auch ihre Qualität äußerst zügig herum, war schließlich Termin für Termin binnen Stunden ausverkauft, wechselte in größere Säle, wurde zusätzlich in Hannover und Lübeck gehalten, und weil sich das Zuschauerinteresse immer noch ausweitete, bald obendrein auch in Bremen und Oldenburg, nebst Übertragung im Rundfunk.

Worum geht es? Und warum dieser Erfolg? Hanjo Kesting stellt bedeutende Bücher und Schriften unseres kulturellen Herkommens vor, zentrale Texte aus Literatur und Philosophie von der Antike über Mittelalter und Renaissance bis zur Neuzeit. »Der oft beschworene Bildungskanon existiert nicht mehr«, heißt es in der Einleitung. »Die Griechen nannten das kulturelle Gedächtnis Mnemosyne, das heißt Erinnerung, und was das bedeutet, geht aus dem Umstand hervor, dass Mnemosyne die Mutter der neun Musen ist und damit das Fundament aller kulturellen Aktivitäten. Die Kultur gründet sich nicht nur auf das Gedächtnis, sie ist selbst dieses Gedächtnis. Als solches ist sie der Schauplatz unserer Selbstverständigung. Wenn wir diesen Schauplatz verlassen, leben wir im Zustand der Selbstvergessenheit.«

Kesting führt uns infolgedessen ausgiebig auf diesen Schauplatz, an dem wir u. a. dem Gilgamesh-Epos, Homers »Odyssee«, Vergils »Aeneis«, Ovids »Metamorphosen«, dem »Nibelungenlied«, den »Artus«-Geschichten, Dantes »Göttlicher Komödie«, Shakespeares »Hamlet«, Voltaire, Rousseau und Kant begegnen, schließlich Goethes »Reinecke Fuchs«, Marx’ und Engels »Kommunistischem Manifest« oder Nietzsches »Ecce homo«. Die Texte zu den einzelnen Büchern sind jeweils etwa fünfzig Seiten lang und setzen uns in Kenntnis über Inhalt des Werks, Umstände seiner Entstehung, Aspekte ihrer unterschiedlichen Interpretierbarkeit, zeitgeschichtliche Bedeutung und Wirkung sowie ihre Perspektivlinien bis in unsere Zeit.

Ein bisschen gelingt hier die Quadratur des Kreises: Auf der einen Seite erhält der Leser einen Schnellkurs in entscheidende Entwicklungen der Literatur- und Geistesgeschichte, auf der anderen Seite sind die Darstellungen veritable, umfassende Einführungen, fundiert, punktgenau, facettenreich. Das liegt am Miteinander aus profundem Wissen, Gedrängtheit, Erzählfreude und Anschaulichkeit, das den Leser gleich ins Zentrum der Themen führt und ihm umständliche Umwege oder methodisch-akademische Abstraktheiten erspart.

Noch einen Grund gibt es, warum diese Einführungen so gelungen sind: Sie sind frei von falscher Ehrfurcht, Patina und Staub werden nicht verwechselt, der Bedeutung der Werke wegen nicht Halt gemacht vor der Benennung ihrer schwachen oder verjährten Seiten. Und in jedem dieser Texte berührt Kesting die Grundfrage, was uns diese Bücher heute bedeuten und in welchem Licht sie aus moderner Erkenntnis und aus dem Blickwinkel unserer Gesellschaft betrachtet stehen.

Kestings Texte sind auf diese Weise exzellente, spannende Neugier-Wecker, die betreffenden Bücher erstmals oder erneut zu lesen und in ihnen überraschende Entdeckungen zu machen. Alle drei Bände in Kassette kosten zusammen erfreulich günstige 34.90 Euro. Und wer sich vorab für eine repräsentative Kostprobe interessiert, findet sie hier zu Immanuel Kants Schrift „Was ist Aufklärung“.

Michael Klein

Max Frisch – Antwort aus der Stille

Aus der Reihe: Bücher, die sich wirklich lohnen

Max Frisch: Antwort aus der Stille

Suhrkamp Verlag, Taschenbuch

Gelegentlich, wenn ich gerade mehrere Neuerscheinungen angelesen und mangels Interesses beiseite gelegt habe, frage ich mich, ob ich durch die immensen Lektüren meines Lebens womöglich überkritisch geworden bin. Als veritabler Probierstein erweist sich dann, zu einem der Früh- oder Nebenwerke (mithin einem, das als weniger bedeutend gilt) von einem meiner dauergeschätzten Schriftsteller zu greifen – wie macht es sich im Vergleich zu den vorhergehenden Lektüren?

Max Frisch, Antwort aus der Stille, Cover

Suhrkamp Taschenbuch, 8 Euro

Als anlässlich von Max Frischs 60. Geburtstag eine Ausgabe seiner gesammelten Werke zusammengestellt wurde, blieb die lange Erzählung »Antwort aus der Stille« auf Wunsch des Autors außen vor. Sie ist eines seiner Frühwerke, erstmals 1937 erschienen – da war er 26 Jahre alt. 18 Jahre nach Frischs Tod wurde das seinerzeit schon lange vergriffene Buch wiederaufgelegt, und so ist es heute noch leicht zugänglich, z.B. als Suhrkamp-Taschenbuchausgabe für 8 Euro. Allerdings liegt die Frage natürlich nahe, ob eine solche posthume Neuveröffentlichung als im Sinne des Autors zu werten ist?

Die Frage ist angesichts der Lektüre leichter zu beantworten, als man zunächst denken sollte. Erstens wird von Verlagsseite auf den gerade geschilderten Umstand hingewiesen – damit bleibt der Wunsch des Autors im Raum. Zweitens fällt es nicht schwer, die Unvollkommenheiten in Stil und Komposition auszumachen, die einem noch unausgereiften Schriftsteller unterlaufen. Drittens, und das ist entscheidend, verlangte die Qualität der Erzählung unbedingt nach dieser Veröffentlichung.

Max Frisch ist in ihr zwangsläufig noch nicht auf der Höhe seines Könnens – und das wird ihn, selbstkritisch, wie er war, geärgert haben. Andererseits ist »Antwort aus der Stille« bereits völlig unverkennbar ein Werk aus seiner Hand, die Motive seines späteren Werks vorausnehmend, stark in den Figuren, über weite Strecken mitreißend im Stil, der knappst und präzise Lebensverhältnisse plastisch werden lässt, dazu ein klarer Blick auf die großen Fragen des Lebens, nach Identität und der Möglichkeit des bewusst zu wählenden Lebensentwurfs.

Im Zentrum steht der Leutnant und Lehrer Balz Leuthold, der an seinem 30. Geburtstag etwas Großes vollbringen will. Schon immer hat er geglaubt, zu Bedeutendem berufen zu sein, hat das Alltagsleben der durchschnittlichen Welt als fade und ungenügend abgelehnt, hat ein Werk im Sinn, oder eine Tat, so genau weiß er es nicht. Und jetzt geht er auf die 30 zu und wird nervös und ungeduldig – er lebt wie alle anderen, Durchbruch, Erfolg oder Heldentum verzögern sich bedenklich, die Sorge wächst, sie könnten ganz ausbleiben.

Getrieben von einer Mischung aus Geltungswillen und der Angst, das Leben, das jeder nur einmal hat, in der Banalität und mit Halbheiten zu vergeuden, fasst er einen waghalsigen Entschluss: Einen unbezwinglich scheinenden Berggipfel will er als erster ersteigen. Während seiner Vorbereitungen zum Aufstieg bandelt er mit Irene an, einem Gast auf einer Berghütte; und zu seinem Alltagsleben, das er hinter sich lassen will, gehört seine Verlobte Barbara, die er im Streit verlassen hat und die ihm nun nachreist. Drei Figuren, die im Lauf der folgenden Ereignisse in Fragen nach ihrer Haltung zu sich selbst, zum jeweils anderen und zur Grundausrichtung ihres Lebens gezwungen werden.

Über achtzig Jahre alt ist diese Erzählung, aber bis auf Winzigkeiten liest sie sich überraschend zeitgemäß, unverjährt im Entwurf, überzeugend in der Schilderung der Konflikte, übrigens auch spannend. Wirklich, man wünscht, dies wäre tatsächlich das aktuelle Buch eines heutigen jungen Autors, auf dessen weitere Werke man sich würde freuen können. Wer aber die modernen Klassiker Frischs wie »Stiller«, »Homo faber« oder »Montauk« noch nicht gelesen haben sollte, hat es freilich besser und ja noch jede Menge hochlohnenden Lesestoff vor sich.

Michael Klein

William Gilmore Simms: Lenatewa – 8. Kapitel

William Gilmore Simms - Lenatewa (Header)

8. Kapitel

Die ausführliche Beschreibung jenes Krieges findet ihr in Büchern und Zeitungen, deshalb beschränke ich mich darauf, jene Einzelheiten zu erzählen, die uns betrafen.

Der junge Häuptling Olaschottee, der Vetter und Feind Lenatewas, hatte die Indianer, die unsere Niederlassungen überfallen sollten, angeführt, und obwohl er nicht erreicht hatte, was er wollte, fügte er uns doch viel Unheil zu. Er zündete unsere Besitzungen an, um uns aus dem Blockhaus zu locken; als ihm dies aber nicht gelang, zog er ab, weil ein Indianer bei einer längeren Belagerung leicht ermüdet. Wir sahen ihn nicht wieder bis zu jenem Frieden, der nach der Niederlage der Indianer bei Echotee rasch zustande kam. Bei letzterer Gelegenheit wurde Lenatewa gefährlich verwundet, doch da die Indianer in der Regel geschickter in derlei Heilungen sind als die Weißen, erholte er sich wieder, wenn auch sehr langsam.

Währenddessen waren wir alle auf unsere Besitzungen zurückgekehrt, pflanzten, bauten und vergaßen die überstandenen schweren Zeiten.

Eines Tages wurden wir von Lenatewas Besuch überrascht, der mit völlig geheilten Wunden zurückkehrte. Er war ein schöner, wohlgewachsener Mann und sah in seiner malerischen Kleidung äußerst stattlich aus. Wir begrüßten ihn alle als einen alten Freund, und er blieb drei Tage bei uns. nahm dann Abschied, kam aber nach einigen Wochen wieder und verweilte abermals drei Tage.

So fuhr er fort, uns von Zeit zu Zeit zu besuchen, bis Betsy mir eines Tages sagte:

»Hör mal, Daniel, Lenatewa kommt nur wegen Lucy so häufig zu uns, glaub‘ mir.«

Als sie mir das mitteilte, erinnerte ich mich, wie ungemein aufmerksam der junge Häuptling gegenüber Lucy war und dass er uns oft verließ, um ihr in den Garten zu folgen. Wenn er ihr wirklich gewogen ist, dachte ich mir allerdings, sollte denn ein so braver Bursche, ein edler, großmütiger, besonnener Indianer nicht ebenso gut sein wie ein Weißer? Betsy wollte davon nichts wissen und ereiferte sich, ihre Tochter solle keinen Wilden, keinen Heiden, keinen Rothäutigen heiraten, solange sie noch ein Wort zu reden habe.

Ich beruhigte sie mit der Bemerkung, dass immer noch Zeit genug sei, dem jungen Häuptling eine Antwort zu geben, wenn er gefragt hätte. Im Übrigen wäre es unsere Schuldigkeit, ihm nach allem, was er für uns getan habe, freundlich zu begegnen.

Betsy war indes anderer Meinung und behauptete, der Stiefel wäre am andern Bein, die Dankbarkeit sei auf seiner Seite und nicht auf der unsrigen, und ich konnte sie nicht einmal dazu bringen, Lenatewa wenigstens mit freundlichen Blicken zu empfangen. Dieser schien sich übrigens nicht viel daraus zu machen, da ich selbst ihm gegenüber stets zuvorkommend war.

Lucy behandelte ihn ebenfalls immer höflich und liebreich, was mich besonders freute. Sie hatte jene entsetzliche Nacht nie vergessen, als sie, von den Feinden gefangengenommen, jeden Augenblick den Tod erwartete und nur durch Lenatewas Mut und List gerettet wurde. Sie ging mit ihm spazieren, unterhielt sich vertraut mit ihm, als wären sie Geschwister, und auch er benahm sich so höflich gegen sie wie ein geborener Franzose.

Ihr könnt glauben, dass es für meine Frau kein erfreulicher Anblick war, die beiden zusammen gehen zu sehen.

»Daniel«, sagte sie, »du musst die jungen Leute im Auge behalten. Ich glaube beinah‘, Lucy hat sich in diesen Indianer verliebt und könnte imstande sein, mit ihm davonzulaufen.«

»Welche Idee!« entgegnete ich, doch das beruhigte sie nicht, und ich war genötigt, ihretwegen die beiden zu beobachten. Wohin sie auch ihre Spaziergänge nahmen, folgte ich ihnen, die Büchse in der Hand. Ich tat dies lediglich Betsy zu Gefallen, weil sie es wünschte und ich stets gern ihre Wünsche erfüllt hatte; aber wäre der Bursche mit dem Mädchen wirklich fortgelaufen, ich hätte nicht auf ihn geschossen. Meiner Ansicht nach wäre Lenatewa ein ebenso guter Mann für meine Tochter geworden wie jeder andere. Soweit sollte es aber leider nicht kommen.

Eines Tages, nachdem er fast eine Woche bei uns zugebracht hatte, sprach er ein paar leise Worte zu Lucy, die darauf ihren Hut nahm und mit ihm hinausging. Ich befand mich gerade in der oberen Kammer, die eher zum Zufluchtsort bei Annäherung der Indianer als zum alltäglichen Aufenthalt bestimmt war.

»Daniel«, rief meine Frau plötzlich, und aus dem Tonfall ihrer Stimme konnte ich erraten, was sie mir sagen wollte. Ich war jedoch gerade im Begriff, etwas anderes zu tun, auch war es mir, wie schon gesagt, unangenehm, hinter einem Freund herzuschleichen. Ich begnügte mich daher damit, die beiden durch eine der Schießscharten zu beobachten.

In der Tat fürchtete ich weder von Lenatewa, noch von meiner Tochter, dass sie einfach durchbrennen könnten, und obwohl Lucy ihn liebreich behandelte, hielt ich dies für eine natürliche Folge ihres sanften Gemüts und der Verpflichtung, die sie ihm für alles, was er für uns getan hatte, schuldete. Und als ich sie auf und ab wandern sah, kam mir immer aufs Neue der Gedanke, was für ein hübsches Paar sie abgeben würden.

Beide waren stattlich und schlank, und ein schöneres Mädchen als Lucy lebte in der ganzen Niederlassung nicht. Auch Lenatewa hatte das edelste und schönste Äußere, das ich je bei einem Wilden gesehen habe, denn ein besonnener Indianer ist ein so edles Geschöpf, wie es der liebe Gott nur erschaffen hat. So stolz, so kühn, so keck in allen seinen Bewegungen, immer als ob er im Begriff sei, irgendeine große Tat zu vollführen und dabei wisse, dass die ganze Welt ihr Auge auf ihn gerichtet habe. Ich wusste überdies, dass Lenatewa nicht nur so edel erschien, sondern es auch wirklich war.

Wie sie so nebeneinander gingen, den Kopf etwas geneigt, zuckte mir durchs Hirn: Wie, wenn er ihr gerade jetzt seine Gefühle enthüllte, wenn auch sie ihn lieber hätte als sonst jemand auf der Welt? Und wenn sie in dieser Hinsicht meine Meinung teilte?

Ich dachte ferner: Gibt es einen schöneren Anblick im Leben, als ein junges Paar, dessen gegenseitige Liebe mit aller Wärme erwacht ist, und das, beseelt von diesem Gefühl, in der Unschuld seiner Herzen unter dem Schatten so hoher, herrlicher Bäume dahin wandelt?

Ich setzte mich nieder, legte meine Büchse auf die Knie und folgte ihnen bewegt mit meinen Blicken, bis mir Tränen in die Augen traten. Ich sah, wie sie auf und ab gingen, sah, wie Lenatewa beim Reden seine Hand bewegte, was angesichts der äußeren Ruhe des Indianers nicht häufig der Fall ist, und überlegte, was ich beschließen solle, wenn er wirklich Lucy zur Frau begehre und sie ihm nicht abgeneigt sei. Was sollte ich tun? Konnte ich sie ihm abschlagen? Und konnte ich »Ja« sagen, wenn Betsy »Nein« wollte?

Während mich diese Gedanken beschäftigten, hatte ich die jungen Leute aus dem Blickfeld verloren; da hörte ich plötzlich einen lauten Schrei und einen gellenden Ruf, als hätte ihn Lenatewa ausgestoßen. Ich sah schnell um mich, erstarrte aber beinahe angesichts des Anblicks, der sich mir bot.

Lucy lag ausgestreckt auf dem Boden, und Lenatewa taumelte wie tödlich verwundet zurück, während ein anderer Indianer, seinen Tomahawk schwingend, auf ihn zustürzte und einmal, zweimal, dreimal den Kopf des unglücklichen jungen Häuptlings traf. Aus der schwarzen Färbung seines Gesichts, dem roten Kreis um die Augen und der Adlerfeder im Haar erriet ich, dass es Olschottee war, der den Tod seines Vaters und seine Rache nicht vergessen hatte – und wann vergäße dies je ein Indianer!

Natürlich saß ich nicht tatenlos da, während ein Freund von mir niedergeschossen wurde und meine Tochter halbtot danebenlag. Blitzschnell riss ich die Büchse an die Wange, und der Angreifer bekam den bleiernen Boten augenblicklich und fiel in derselben Sekunde mit seinem Opfer.

Ich stieß dann einen Schrei aus, als sei ich selbst ein Wilder, und eilte auf den Platz hinaus, nach meinem Kind zu sehen. Mit Lenatewa war es schon zu Ende, der hatte seinen Abschied für dieses Leben. Zwar zuckte er noch und stöhnte und seufzte und gab Laute von sich, als ob er eine Art Sterbelied singen wollte, man konnte aber nichts mehr verstehen, und nach kurzem Krampf und Zittern war der Todeskampf vorbei.

Meine Kugel hatte schneller gewirkt, denn Olschottee lag, als ich zu ihm kam, tot und starr da wie eine Ratte.

Lucy war nicht verwundet, weder durch Kugel, noch durch Tomahawk – das Herz hatt’ es ihr aber getroffen, und ob es nun der Schock gewesen war oder sie noch tiefere Gefühle für den jungen Häuptling gehabt hatte, als wir beide ahnten, weiß ich nicht zu sagen, und ich war nie Manns genug, sie zu fragen. Sie lachte jedoch nie mehr und blieb unverheiratet, soviel ist sicher, und hatte doch öfter – und so gute – Gelegenheit dazu gehabt wie jedes andere Mädchen in der Ansiedlung.

Aber Ihr habt sie ja selbst gesehen – und ist sie nicht eine Schönheit? Und – wenn ich’s auch selber sage – die wahre Blume des Waldes?

 

 

William Gilmore Simms

William Gilmore Simms (Ausschnitt aus einem Ölgemälde eines unbekannten Künstlers)

William Gilmore Simms: Wigwam und Blockhaus - Cover

Eine kurze Einführung zu William Gilmore Simms gibt es hier. Und für Neueinsteiger geht es auf diesem Weg zum 1. Kapitel.

Der Text folgt weitgehend der 2002 erschienenen Buchausgabe „Wigwam und Blockhaus“ von William Gilmore Simms. Die Grundlage ist die Übersetzung von Friedrich Gerstäcker aus dem Jahr 1846. Sie wurde sorgfältig durchgesehen, gelegentlich verbessert bzw. behutsam um die kleine Staubschicht auf der Sprache von vor 170 Jahren bereinigt, eventuell von Gerstäcker vorgenommene kleinere Kürzungen wurden wieder rückgängig gemacht. Das Copyright dieser Textfassung liegt beim Herausgeber Michael Klein.

William Gilmore Simms: Lenatewa – 7. Kapitel

William Gilmore Simms - Lenatewa (Header)

7. Kapitel

Welch ein grässlicher Anblick dies für einen Vater ist, kann lediglich ein Vater begreifen.

Da lag ich auf meinen Händen und Knien unbeweglich, fast be­sinnungslos, und es verging fast eine halbe Stunde, in der ich völlig erstarrt dalag. Nur die großen Tränen, die langsam mei­nen Augen entquollen, bewiesen, dass noch Leben in mir war. Ich versuchte zu beten, aber ich vermochte es nicht. Ich konnte meinen Blick nicht abwenden von jenem Platz, an dem mein Kind saß, und ich wurde immer stärker davon überzeugt, dass Handeln von meiner Seite aus fruchtlos bleiben müsse. Was konnte ich, ein einzelner Mann, nur mit Büchse und Messer bewaffnet, gegen die Übermacht ausrichten? Und hätte ich auch den stärksten jener Burschen niedergeschossen – wozu? Es wäre lediglich unnütz Blut geflossen, und ich hätte ja diese roten Teufel so gern in alle Ewigkeit leben lassen, wäre nur meine Tochter gerettet gewesen.

Was tun? Zum Blockhaus zurückkehren? Wusste ich denn, ob noch eine Seele am Leben war, oder ob nicht die Indianer schon dort gewesen waren? Und wohin sonst konnte ich mich um Hilfe wenden? Nirgends, nirgends als zu Gott! Ich stöhnte – so laut, dass ich zu fürchten begann, man höre mich. Allesamt waren indes eifrig mit dem Essen beschäftigt. Nur die unglückliche Lucy in ihrer Mitte saß so bleich, so verzweifelnd da, wie ich sie schon vor elf Jahren gesehen hatte.

Ich wandte mich ab. Ich konnte den Anblick nicht länger ertragen, ging den Hügel hinunter und warf mich zu Boden, ächzte und raufte mein Haar, als ob mir das etwas geholfen hätte.

In diesem Zustand berührte mich eine Hand.

Ich sprang auf und schwang meine Büchse, um den Fremden sogleich mit dem Kolben zu erschlagen – doch seine Stimme hielt mich zurück.

»Bruder«, sagte er, »ich Lenatewa.«

Die sanfte Weise, in der er redete, überzeugte mich, dass er es gut meinte. Ich reichte ihm die Hand. Tränen entströmten meinen Augen, mein Herz war wie gebrochen, und nur schweigend konnte ich zum Hügel deuten und ausrufen:

»Mein Kind, mein Kind.«

»Sei Mann«, sagte er, indem er mich fortzog, »komm!«

»Willst du sie retten, Lenatewa?«

Er antwortete nicht, führte mich aber zum kleinen Teich und zeigte auf den alten Baum, wo ich ihn vor vielen Jahren tödlich verwundet gefunden hatte. Ich wusste, er wollte mir damit andeuten, dass er nicht vergessen habe, was ich einst für ihn tat, und dass er mir helfen werde, wo er nur könne. Das genügte mir freilich nicht. Ich musste wissen, was er zu tun beabsichtigte und welche Hoffnungen er hegte. Aus der Vorsicht, die er walten ließ, mich vom Lager weg zu führen, konnte ich schließen, dass er jene Indianer nicht anführte.

Er fragte mich, ob ich die Bemalung jener Krieger nicht beobachtet hätte. Ich hatte aber nichts gesehen als mein Kind. Dann erfuhr ich, dass es die Partei seines Onkels, jenes schwarzen Häuptlings sei, der ihn vor Jahren hatte ermorden wollen und der von seines Vaters Anhängern erschossen wurde; dass jene ferner seine tödlichsten Feinde wären und jetzt vom Sohn seines Onkels befehligt würden, der geschworen habe, den Tod des Vaters an Lenatewa zu rächen.

Alles dies teilte er mir in wenigen Minuten mit und machte mir dabei begreiflich, dass wir mein Kind nur durch List befreien könnten.

Er hatte zwei Begleiter bei sich, die schon Vorbereitungen dazu trafen. Was dies aber für Vorbereitungen waren, darüber erklärte er sich nicht, und ich musste all meine Geduld zusammennehmen, um sein Handeln abzuwarten – in meiner gegenwärtigen Gemütsverfassung wahrhaftig keine leichte Aufgabe, denn so schnell der Indianer im direkten Gefecht ist, so vorsichtig, kalt und langsam bewegt er sich, wenn es um eine List geht.

Nach einer Weile führte mich Lenatewa um den Hügel herum in eine Schlucht, die mir bis dahin völlig unbekannt gewesen war. Hier standen zu meinem Erstaunen nicht weniger als zwölf Pferde angebunden, die die roten Teufel am selben Tag aus den Niederlassungen gestohlen hatten. Das meinige war auch darunter, was ich jedoch erst entdeckte, als Lenatewa darauf zeigte.

»Dies ihn bald in Bewegung setzen«, sagte er, indem er auf mein Pferd deutete, wodurch ich einen Teil seines Plans erriet. Er wollte aber nicht, dass ich dabei mithalf – jetzt wenigstens noch nicht –, und trug mir auf, das Feuer auf der Höhe zu beobachten, da die Schlucht am Fuß des Hügels lag, auf dem die Indianer lagerten. Gleich einem Schatten bewegte er sich nun weiter, und zwar derart leise und vorsichtig, dass ich bekennen muss, dass ich – obwohl ich mich für einen geschickten Späher hielt – verglichen mit ihm doch nur ein Stümper gewesen wäre.

Schnell hatte er mein Pferd losgebunden, führte es langsam durch die Schlucht um den Fuß des Hügels und halb die gegenüber liegende Anhöhe hinauf. Der Wind wehte vom Lager her, weshalb sie nicht das leiseste von uns ausgehende Geräusch hören konnten; sie schienen aber auch nicht im mindesten darauf zu achten, und doch war ich nie im Leben so voller Angst gewesen wie gerade jetzt.

Ich war nun Lenatewa gefolgt und traf ihn an jenem Ort, wo er das Pferd befestigt hatte, einige hundert Schritte von den Indianern entfernt, auf dem Weg dem Blockhaus zu. Die Schlucht, in der sich die gestohlenen Pferde befanden, musste jenseits des Lagers liegen, woraus ich seinen Plan zu erraten glaubte.

Seine beiden Begleiter stießen zu ihm, einer nach dem andern, und gaben ihm in ihrer Sprache einen langen Bericht. Er teilte mir daraufhin mit, dass drei meiner Gefährten skalpiert worden, der vierte, Hugh Darling, aber entkommen sei; dass dieser die Leute im Blockhaus gewarnt habe und dass Lucy auf meiner Besitzung gefangengenommen worden war, zu der sie ohne Begleitung gegangen sei.

Lenatewa sagte mir, was er zu tun gedenke und auf welche Weise ich mich verhalten solle. Er entfernte sich dann mit seinen Begleitern, und als ich glaubte, sie könnten sich der Schlucht ziemlich genähert haben, schlich ich leise dem Lager zu.

Als ich es bis auf etwa fünfundzwanzig Schritt Entfernung erreicht hatte, hielt ich es für ratsam, ruhig liegen zu bleiben und zu warten. Ich konnte jedes Gesicht unterscheiden, und mein armes Kind totenbleich in ihrer Mitte.

Meine Geduld wurde auf keine lange Probe gestellt, denn bald entstand ein entsetzlicher Lärm unter den gestohlenen Pferden. Ich muss an dieser Stelle anmerken, dass ein Pferd einem Indianer so wertvoll ist wie die Geliebte dem weißen Mann; kaum vernahmen also die Lagernden das Getöse, sprangen sie eiligst auf und jeder lief, schnell nach seinem Pferd zu sehen. Nur ein einziger blieb zurück, den Tomahawk über dem Kopf meines armen Kindes schwingend, als wolle er sie jeden Augenblick erschlagen. Ich konnte die Ärmste beim Schein der Flamme genau erkennen – wie sie in ihrer Todesangst die Hände faltete und betete, da sie jetzt den tödlichen Schlag erwartete.

So sehr es in meinem Innern kochte, musste ich mich doch zurückhalten, bis das Geräusch der Davongeeilten sich verlor. Dann zielte ich auf die Brust des Indianers, der mein Kind bewachte.

Ich zitterte und zog das Gewehr zurück. Ich wusste, dass ich nur den einen Schuss hatte, und wenn dieser fehlging oder nicht tödlich traf, würde der Wilde mit seiner letzten Kraft den Tomahawk in ihrem Schädel begraben.

Ich legte wieder an und fühlte mich mit einem Mal sicher. In diesem Augenblick hörte ich das Geräusch von Menschen und Pferden, weit in der Ferne, und wusste, dass der rechte Moment gekommen war. Die Kugel traf ihr Ziel, und als ich mit dem Messer vorsprang, das Todeswerk zu vollenden, fand ich das bereits getan.

Ich zerschnitt die Bande, die mein Kind an einen Baum fesselten, und sie fiel mir um den Hals und konnte nur die Worte »mein Vater« schluchzen. Einen Augenblick hielt sie mich umschlungen, und mit welchen Gefühlen brauche ich wohl nicht zu sagen.

Dann flohen wir zum bereitstehenden Pferd, und hat das alte Tier seine vier Knochen je gebraucht, war es an diesem Abend. Nach einem scharfen Ritt kamen wir am Blockhaus an, und die arme Betsy freute sich närrisch, ihr Kind und mich, die sie beide schon verloren geglaubt hatte, noch mit natürlichem Skalp zu sehen und an ihr Herz pressen zu können.

Fortsetzung folgt.

Eine kurze Einführung zu William Gilmore Simms gibt es hier. Und für Neueinsteiger geht es auf diesem Weg zum 1. Kapitel.

Der Text folgt weitgehend der 2002 erschienenen Buchausgabe „Wigwam und Blockhaus“ von William Gilmore Simms. Die Grundlage ist die Übersetzung von Friedrich Gerstäcker aus dem Jahr 1846. Sie wurde sorgfältig durchgesehen, gelegentlich verbessert bzw. behutsam um die kleine Staubschicht auf der Sprache von vor 170 Jahren bereinigt, eventuell von Gerstäcker vorgenommene kleinere Kürzungen wurden wieder rückgängig gemacht. Das Copyright dieser Textfassung liegt beim Herausgeber Michael Klein.