William Gilmore Simms: Lenatewa – 6. Kapitel

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6. Kapitel

Alles gestaltete sich für uns nun glücklich. Lenatewa bewog den alten Micco rasch zum Frieden, der lediglich in die Feindseligkeiten eingewilligt hatte, weil jener schwarze Häuptling – ein Onkel des jungen Micco, der auch seine ganz eigenen Gründe gehabt hatte, ihn aus dem Weg zu räumen – ihm gesagt hatte, Lenatewa sei von den Weißen ermordet worden. Dies hatte den alten Häuptling zur Verzweiflung und zur Wut gegen uns gebracht. Als er nun die Wahrheit erfuhr und sah, wie freundlich wir seinen Sohn behandelt hatten, wusste er nicht genug zu danken. Er schwor, mein Freund zu bleiben, solange die Sonne scheinen, die Gewässer fließen und die Berge stehen würden, und ich glaube, der gute Alte hätte seinen Schwur gehalten, wenn er so lang gelebt hätte. Er hielt ihn jedoch bis zu seinem Tod, und ebenso sein Sohn, der ihm als Micco Glucco folgte.

Jahre vergingen, und wenngleich häufige Feindseligkeiten zwischen den Indianern und den Weißen stattfanden, berührten sie doch niemals unsere Niederlassungen. Lenatewa hatte seinen Totem an unsere Bäume gemacht, wodurch die Indianer wussten, dass diese Gegend unverletzbar sei.

Nach einem Zeitraum von elf Jahren indes wurde es anders. Der junge Häuptlingssohn schien unsere Freundschaft vergessen zu haben, und wir sahen ihn jetzt nie mehr unter uns. Unglücklicherweise hatten einige unsrer jungen Leute drei junge Krieger vom Ripparee-Stamm getötet, die beim Pferdediebstahl ertappt worden waren. Mich erfüllte das mit Besorgnis, denn ich fürchtete die Folgen, die uns dann tatsächlich erreichten. und zwar zu einem Zeitpunkt, an dem wir es am wenigsten erwarteten.

Ich hatte alle Ursache zu hoffen, dass Lenatewa den Krieg von meiner kleinen Familie entfernt halten würde, dachte aber freilich nicht daran, dass er nur Häuptling eines Teilstammes und keineswegs der des ganzen sei. Der jetzige Krieg war allgemeiner Natur, und das gesamte Volk der Cherokesen war unter Waffen. Es leben auch wohl noch manche, die sich jenes schrecklichen Krieges erinnern und daran, wie die Bewohner Carolinas die Indianer zuletzt demütigten; doch ist hier nicht der Platz, von all dem Blutvergießen, von denen, die skalpiert wurden, und vom Elend, das Junge und Alte, Männer, Frauen und Kinder erlitten, zu reden.

Unsere Niederlassung war immer weitläufiger geworden, so dass wir endlich ein ansehnliches Blockhaus errichten mussten und dies mit Vorrat aller Art versahen, um uns im Notfall dahin zurückziehen zu können. Das taten wir, als wir durch unsere Späher erfuhren, dass sie Spuren der Indianer entdeckt hatten, und ließen dort unsere Frauen und Kinder unter einer sicheren Wache. Am Tage bestellten wir dann unser Feld und kehrten nachts zu unsern Familien zurück.

Auf diese Weise verlebten wir etwa fünf Wochen, ohne durch den Feind beunruhigt zu werden. Die Zeichen seiner Nähe verschwanden allmählich wieder, und wir glaubten, der Sturm sei glücklich vorübergezogen, ja vielleicht durch Lenatewas alte Freundschaft von uns abgewendet.

Dadurch ermutigt, ließen wir in unserer Wachsamkeit nach, die Männer brachten auch die Nächte auf ihren Besitzungen zu, und tags nahmen sie ihre Frauen, ja einige selbst die Kinder mit dorthin. Ich riet ihnen zu größerer Vorsicht, doch sie lachten mich aus und meinten, ich fange an, alt und furchtsam zu werden. Ich dachte zwar: »Wartet nur und seht dann, wer zuerst furchtsam ist«, da ich indes bei meinem Umherstreifen selbst auch keinen Indianer mehr entdeckte, fing ich an, die Meinung der übrigen zu teilen und nahm Betsy dann und wann mit mir auf unsre Besitzung – doch hielt sie vor mir geheim, dass sie einige Male mit Lucy allein, ohne irgendeinen männlichen Schutz, dorthin gegangen sei. Da unser Gehöft kaum eine halbe Stunde vom Blockhaus entfernt lag und wir von den Indianern nichts hörten oder sahen, schien ein solcher Gang nicht allzu gewagt zu sein.

Eines Tages hörten wir, dass sich etwa vier Meilen von den Ansiedlungen entfernt mehrere große Bären im Wald gezeigt haben sollten. Einige von uns – namentlich Simon Lorris, Hugh Darling, Jacob Ransom, William Harkless und ich – beschlossen, sie mit unseren Hunden zu verfolgen. Wir jagten die Bären auch mit Glück, und ich tat den ersten Schuss auf eine große Bärin, die größte, die ich je gesehen habe, verwundete sie leicht und folgte ihr dann eilends ins Dickicht.

Meine Gefährten hetzten den übrigen in verschiedene Richtungen nach und überließen es mir, mit meiner Beute fertig zu werden.

Mein armer Clinch war tot, und ich hatte jetzt zwei junge Hunde, Clap und Claw, mit mir, zu denen ich freilich bei einem Angriff des Bären nicht so viel Zutrauen haben konnte. Da ich jedoch das Tier hitzig verfolgte, dachte ich daran gar nicht, bis ich mich im Kampf mit ihm befand.

Ich prahle nicht, wie ihr wisst, aber das war ein Kampf! Der Bär hatte mich mit solcher Gewalt umfasst, dass mein Atem fast stockte, und nur der Gedanke an Betsy und die Kinder verlieh mir so viel Kraft, ihm mein Messer durch den Pelz zwischen die Rippen zu stoßen. Dadurch umklammerte er mich indes noch fester, und es wäre gewiss um mich geschehen gewesen, wenn er nicht eher als ich die Kraft verloren hätte. Erst sank seine Schnauze gegen meine Brust, dann seine Tatzen, und als er mich auf diese Weise losließ, fiel ich wie ein Kind nieder. Das Tier stürzte auf mich, doch kraftlos, ohne mir noch zu schaden. So lag ich fast eine halbe Stunde, der tote Bär neben mir, war aber fast ebenso unfähig, mich zu bewegen, wie er.

Als ich mich wieder erholte und aufraffte, hörte ich von den anderen Jägern nichts mehr. Ich fand mich allein mit meinen Hunden, und die Sonne begann zu sinken. Mein Pferd, das von mir außerhalb des Dickichts angebunden worden war, hatte den Zaum abgestreift und musste meiner Meinung nach entweder grasen gegangen oder nach Hause zurückgekehrt sein.

Diese Entdeckung war nicht gerade erfreulich. Auch wenn ich mich noch elend von der Bärenumarmung fühlte, überlegte ich doch, dass jetzt nicht die Zeit sei, stehen zu bleiben und zu stöhnen. Ich häutete den Bären ab, zerlegte ihn, nahm den Pelz mit mir und bedeckte das Fleisch mit Saumrinde. Darauf pfiff ich den Hunden und wollte mein Pferd suchen, dessen Spur ich tatsächlich eine Zeitlang folgte, bis ich mich sehr ermüdet fühlte. Es schien aus Schreck in vollem Galopp davongeeilt zu sein, und anstatt nach Hause zurückzukehren, war es zur anderen Seite ins Dickicht gelaufen und dann seitwärts abgedreht, bis ich seine Spur verlor. Ich hielt es für sinnlos, meine Verfolgung zu Fuß länger fortzusetzen, und eilte deshalb so schnell wie möglich dem Blockhaus zu.

Dies war indes keine leichte Aufgabe, da ich noch sieben starke englische Meilen wandern musste und die Sonne schon sehr tief stand. Ich überwand aber allmählich die Schwäche nach dem Kampf mit dem Bären, und obwohl mir die Füße müde genug waren, fühlte ich mich doch ansonsten wieder kräftiger. Die ganze Nacht lag ja vor mir, und den Pfad kannte ich genau; folglich setzte ich meinen Weg wohlgemut fort, mich hin und wieder ausruhend, meine Kräfte aufs neue zu sammeln. Ich trug etwas Brot und Zucker in der Tasche, was mich erquickte und für diesen Tag mein ganzes Mittagessen ausmachte.

Der Abend war völlig still, und wenn ich mich auch wunderte. nichts von Jacob Ransom und den anderen Jägern zu hören, beunruhigte mich das doch nicht sehr. Ich dachte natürlich, dass sie ihr Wild bis in weite Entfernung verfolgt haben würden. Noch mit solchen Vermutungen beschäftigt, hörte ich plötzlich einen Schuss, darauf einen zweiten, und dann war alles so still wie vorher. Ich sah nach meiner Büchse, nach meinem Messer und ging etwas schneller vorwärts.

Es mochte etwa eine Stunde verflossen sein, als es recht finster wurde und ich noch etwa vier Meilen vom Blockhaus entfernt sein musste. Der Himmel war ganz umwölkt, kein Stern sichtbar und die Luft feucht und unangenehm. Ich wünschte, sicher zu Hause zu sein, und fühlte mich unbehaglich, fast ebenso beängstigt wie in der Umarmung des Bären, doch war es jetzt nicht physischer Schmerz, sondern Seelenangst. Ich ahnte, dass ein Unglück geschehen sei, und indem mich dieser Gedanke heftig erfasste, stolperte ich über ein menschliches Wesen. Mein Blut erstarrte, als ich mich niederbeugte, seinen Kopf berührte und fühlte, dass er skalpiert worden war. Nun wusste ich, dass Gefahr drohte, und wenn ich auch nicht sicher erkennen konnte, wer der Tote war, vermutete ich doch in ihm einen unserer Jäger.

Hier blieb nichts anderes zu tun übrig, als vorwärts zu eilen. Ich empfand keine Müdigkeit mehr, und beim Gedanken an Frau und Kinder und was aus ihnen geworden sei, fühlte ich Kraft und Verzweiflung genug, jedem, selbst dem ungleichsten Kampf zu begegnen. Ich kann nicht sagen, dass ich feste Vorstellungen hatte, was geschehen war oder was getan werden könne; nein, ich wagte nicht daran zu denken, dass die Indianer beim Blockhaus gewesen sein könnten; aber es kam eine Angst über mich, die mich zu ersticken drohte, wenn ich daran dachte, wie sorglos wir unsere Frauen und Kinder auf unsere Besitzungen hatten gehen lassen. Ich war wie in einem Fieber, bald brennend und heiß, bald kalt und schaudernd, aber immer schneller eilte ich, alle Müdigkeit vergessend, vorwärts.

Jetzt hatte ich jene Hügelreihe erreicht, wo ich vor elf Jahren das sonderbare Lagerfeuer sah, und die Erinnerung daran kehrte lebhafter als je zurück. Während ich aber noch darüber nachsann, was diese wunderbare Erscheinung wohl habe bedeuten sollen, hatte ich die Spitze eines Hügels erreicht, von dem man bei Tage die ganze Gegend, etwa zehn Meilen im Umkreis, übersehen konnte.

Ihr könnt euch denken, wie erstaunt ich war, als ich auf der gegenüberliegenden Anhöhe – derselben, auf der ich damals die Erscheinung sah – jetzt wieder ein Lagerfeuer, aber ein wirkliches, erblickte. Die Flamme glänzte hell, obwohl ziemlich dicht von Buschwerk und Bäumen umgeben, und ich konnte Gestalten unterscheiden, in denen ich rasch Indianer erkannte. Es wurde mir etwas leichter ums Herz, als ich den Feind vor mir sah, weil ich jetzt wusste, was zu tun war. Ich wollte das Lager belauschen, um zu erfahren, was die roten Teufel beabsichtigten oder was sie bereits ausgeführt hatten, war zudem mittlerweile ein besserer Spion und Jäger als vor elf Jahren und glaubte, nahe genug kommen zu können und alles genau zu sehen, ohne mich durch irgendein Geräusch zu verraten. Die Hunde aber musste ich zurücklassen. Anbinden konnte ich sie nicht, denn dann würden sie geheult haben. Ich zog deshalb meinen Jagdrock aus und gab ihn dem einen, meine Mütze und mein Horn dem andern zu bewachen. Ich wusste, dass sie diese Sachen nicht verlassen würden. Dann sprach ich ein kurzes Gebet und schlich leise langsam vorwärts.

Wäre ich diesmal so unbesonnen gewesen wie das erste Mal, ich hätte meine Hütte nicht wiedergesehen; so aber kam ich ohne größere Schwierigkeiten nahe genug, um alles beobachten zu können, und jetzt wurde mir jene Erscheinung vor elf Jahren klar. Ich sah alles so deutlich, wie ich wollte, und deutlicher, als ich wünschte! Ich sah die Indianer das Feuer umlagern, sah die junge Frau in ihrer Mitte, und diese junge Frau war – meine Tochter, mein Kind, meine arme, teure Lucy.

Fortsetzung folgt.

Eine kurze Einführung zu William Gilmore Simms gibt es hier. Und auf diesem Weg geht es zum 1. Kapitel.

Der Text folgt weitgehend der 2002 erschienenen Buchausgabe „Wigwam und Blockhaus“ von William Gilmore Simms. Die Grundlage ist die Übersetzung von Friedrich Gerstäcker aus dem Jahr 1846. Sie wurde sorgfältig durchgesehen, gelegentlich verbessert bzw. behutsam um die kleine Staubschicht auf der Sprache von vor 170 Jahren bereinigt, eventuell von Gerstäcker vorgenommene kleinere Kürzungen wurden wieder rückgängig gemacht. Das Copyright dieser Textfassung liegt beim Herausgeber Michael Klein.

William Gilmore Simms: Lenatewa – 4. und 5. Kapitel

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4. Kapitel

Sechs Wochen mochte der Junge auf solche Art bei uns zugebracht haben und fühlte sich mit jedem Tag besser, war aber doch noch zu schwach, als dass er die Ansiedlung hätte verlassen können. Während dieser Zeit nahmen die Unruhen der Indianer zu, und obwohl in unserer Nachbarschaft noch kein Blut vergossen worden war, hörten wir doch von allen Seiten von Morden und Skalpieren und konnten uns darauf gefasst machen, dass auch an uns die Reihe kommen werde. Wir trafen unsere Vorbereitungen, nahmen Munition ein und hielten abwechselnd Wache.

Schließlich schienen sich die Indianer auch unserer Gegend in Menge zu nähern. Jacob Ransom war auf eines ihrer Lager gestoßen, das sie zu diesem Zeitpunkt eben erst verlassen hatten, und es gab Ursache, das Schlimmste zu fürchten, besonders, da sie sich nicht offen sehen ließen, sondern nächtlich von Ort zu Ort zogen und unsere Hütten heimlich umschlichen oder im Dickicht versteckt lagen.

Eines Abends, als ich wie gewöhnlich von Clinch begleitet ausging, die Runde zu machen, und mich erst wenige Schritte von der Pforte entfernt hatte, stand der Hund still und bellte dumpf. – Jetzt wusste ich, dass Gefahr vorhanden sei, wandte mich ruhig um, ohne Eile oder Furcht zu zeigen, und erreichte noch glücklich das Blockhaus. Doch kaum hatte die Tür geschlossen, als die Indianer herbeistürmten, wütend, dass ihr Vorhaben, mich zu überraschen, misslungen war. Nur der scharfen Witterung meines treuen Clinch hatte ich es damals zu verdanken, dass ich und die meinigen die Sonne wieder aufgehen sahen.

Als die Wilden merkten, dass ihr Überfall missglückt war, erhoben sie ein gellendes Kriegsgeschrei, ein Zeichen, dass sie uns nun vollständig belagern würden. Bei diesem Geschrei erglänzten die Augen des Jungen, und er spitzte die Ohren wie ein Hund, der zuerst eine Spur des Wildes wittert oder das Horn des Jägers vernimmt. Ich beobachtete ihn genau und war im Zweifel, was ich tun solle; konnte er nicht, während ich gegen den äußeren Feind kämpfte, hinter meinem Rücken meine Frau und Kinder erwürgen? – Ich sagte euch nicht, dass ich am Ufer des Teichs, wo ich ihn fand, auch seinen Bogen und Pfeile aufgenommen hatte, und sein Jagdmesser steckte damals in seinem Gürtel. Sollte ich ihm nun seine Waffen nehmen? Und nahm ich sie, konnte ihm dann nicht ein Scheit Holz als ebenso gefährliche Waffe dienen?

In Zeiten der Gefahr drängen sich die Gedanken mit rasender Schnelle an unsrer Seele vorüber; so bestürmten all diese Betrachtungen mein Hirn, während mein Blick auf dem Jungen ruhte. Ich hielt es indes für das beste, ihm wie einem Freund zu vertrauen, da ich mir nicht denken konnte, dass er – nach allem, was wir für ihn getan hatten – falsch sein würde.

»Lenatewa«, sagte ich zu ihm, denn so nannte er sich, »dort sind deine Brüder.«

»Ja«, antwortete er langsam und richtete sich dabei hoch auf, denn er hatte ein stattliches, befehlendes Äußeres, einem Häuptling gleich, als dessen Sohn er sich auch zu erkennen gegeben hatte, »ja, das sind Lenatewas Brüder, soll er zu ihnen gehen?«

Dabei machte er eine Bewegung zum Fortgehen, doch ich hielt ihn zurück, nicht gesonnen, den Vorteil zu verlieren, den mir seine Anwesenheit als Gefangener in die Hände gab.

»Nein«, sagte ich, »nein, Lenatewa, heute Abend nicht, aber morgen, morgen magst du ihnen sagen, dass ich ein Freund und kein Feind bin, damit sie nicht kommen und meinen Wigwam abbrennen.«

»Bruder – Freund«, sagte darauf der Junge, mit Freimütigkeit meine Hand ergreifend. Er ging auch zu meiner Frau, tat dasselbe und wiederholte: »Bruder – Freund.« Ich beobachtete all seine Bewegungen und sagte zu Betsy: »Der Bursche ist redlich, sei ohne Furcht.«

Wir brachten eine schreckliche Nacht zu. Von Zeit zu Zeit ertönte das Kriegsgeschrei der Indianer, und durch die Schießscharten sahen wir, dass sie auf drei verschiedenen Seiten Wachfeuer angezündet hatten, um uns von den übrigen Niederlassungen abzuschneiden und jede Hilfe unmöglich zu machen.

Ich gab mich aber nicht der Verzweiflung hin, sondern arbeitete die ganze Nacht, und obwohl Lenatewa mir nicht half, saß er doch ganz ruhig oder streckte sich neben dem Feuer aus, als ginge ihn die ganze Sache durchaus nichts an. Mit Tagesanbruch aber hatte er jene blutigen Kleider angelegt, in denen ich ihn gefunden hatte. Alles, was ich ihm gab, hatte er beiseite getan, und obwohl seine Jagdkleider, die er jetzt trug, mit Blut und Schmutz befleckt waren, schienen sie doch mit solcher Sorgfalt und solchem Anstand geordnet, als habe er sich vorbereitet, Gesellschaft zu empfangen. Ich muss hierbei erwähnen, dass ein Indianer höherer Abkunft stets eine natürliche Würde und Grazie hat, wie ich sie nie bei einem Weißen gefunden habe.

Er war eifrig damit beschäftigt, durch eins der Schießlöcher zu schauen, und wenn ich auch nicht wusste wodurch, merkte ich doch bald, dass seine Aufmerksamkeit auf eine ganz besondere Weise in Anspruch genommen wurde. Ich entdeckte nun auch, dass er trotz meiner Wachsamkeit Gelegenheit gefunden hatte, sich mit denen draußen in Verbindung zu setzen. Anfangs begriff ich nicht, auf welche Art ihm dies möglich gewesen war, ich hatte aber seinen Bogen und die Pfeile vergessen. Von letzteren musste er einen durch die Schießscharte abgeschossen und daran ein Büschel seines Haupthaars befestigt haben. Die dadurch hervorgebrachte Wirkung war außerordentlich, und wir sahen während einiger Stunden keinen einzigen Indianer. Was sie während dieser Zeit taten, ließ sich nur vermuten, nämlich, dass sie Rat miteinander hielten – dass das Resultat dieser Beratschlagung der Tod eines ihrer Genossen anstatt des unsrigen sein würde, konnten wir nicht ahnen.

Als sich die Feinde wieder zeigten, kamen sie in zwei Abteilungen aus dem Wald hervor; sie hatten sich nicht völlig getrennt, bewegten sich aber doch nicht zusammen. Es schien, als ob sie uneins geworden seien.

Ihre gesamte Anzahl betrug etwa vierzig, von denen acht oder zehn, unter der Führung eines kräftigen, finster aussehenden Häuptlings, etwas abgesondert gingen; dieser hatte sein halbes Gesicht schwarz gefärbt und trug einen roten Kreis um beide Augen. Die anderen folgten einem alten weißhaarigen Häuptling, der mindestens sechzig Winter zählen musste.

Während ich vor einer Schießscharte kniete, um sie zu beobachten, kam Lenatewa zu mir, berührte meinen Arm und sagte: »Micco Lenatewa Glucco« – woraus ich erriet, dass dies der Vater oder Großvater des Jungen sei.

»Gut«, antwortete ich, indem ich zugleich bedachte, das Beste sei womöglich, ihr Vertrauen und ihre Freundschaft zu erlangen, »gut, Lenatewa, gehe zu deinem Vater, erzähl’ ihm, was Daniel Nelson für dich getan hat, und lass uns Frieden schließen. Du siehst, Junge, dass wir wohl kämpfen können, wir haben Waffen und Lebensmittel genug; und mit dieser Büchse könnte ich den Häuptling, deinen Vater, und jenen andern Häuptling, der sich so entsetzlich bemalt hat, niederschießen.«

»Schieß‘ nur«, sagte er schnell, indem er auf den Häuptling zeigte, von dem ich zuletzt gesprochen hatte.

»Ach, ist der dein Feind?«

Der Junge nickte mit dem Kopf und zeigte auf die Wunden an seinen Schläfen und in seiner Seite. Jetzt wurde mir die Sache klar.

»Nein«, sagte ich, »nein, Lenatewa, ich will keinen erschießen. Ich wünsche Frieden. Ich möchte den Indianern nur Gutes erweisen und ihr Freund sein. Geh‘ zu deinem Vater und sag ihm das; geh‘ und mach‘ ihn zu meinem Freund.«

Der Junge ergriff meine Hand, legte mir seine aufs Haupt und sagte: »Gut.«

Ich begleitete ihn bis an die Pforte; doch eh er die Hütte verließ, stand er einen Augenblick still und legte seine Hand auch auf den Kopf der kleinen Lucy. Ich war hierüber erfreut, denn es schien zu sagen: »Dir soll kein Leid geschehen, kein Haar deines Hauptes soll gekrümmt werden.« Ich öffnete ihm dann, schloss hinter ihm zu und eilte zur Schießöffnung zurück.

5. Kapitel

Der Anblick, der mich hier erwartete, war ebenso unerwartet wie fürchterlich. Sobald die Indianer den jungen Häuptlingssohn sahen, erhoben sie lautes Geschrei, doch konnte ich nicht erraten, ob aus Freude oder einem andern Grund.

Er schritt kühn vorwärts, obgleich er noch ziemlich schwach war, und der Anführer an der Spitze der zahlreicheren Partei kam ihm entgegen. Die kleinere Abteilung mit ihrem schwarzen Häuptling, von dem Lenatewa sagte, ich möge ihn erschießen, setzte sich ebenfalls langsam in Bewegung, doch schienen sie unschlüssig, ob sie näherkommen oder fliehen sollten. Ihr Anführer sah etwas verwirrt aus.

Sie hatten indes nicht lange Zeit zu überlegen. Denn als der junge Häuptlingssohn mit seinem Vater zusammengetroffen war und einige Worte mit ihm gewechselt hatte, sah ich, dass Lenatewa mit dem Finger auf den schwarzen Häuptling deutete. Hierauf erhob er seine geballten Fäuste und schien, seinen Bewegungen nach zu urteilen, heftig und erzürnt zu reden. Daraufhin erhoben mit einem Schlag die Anhänger des alten Häuptlings ihr Kriegsgeschrei, und die anderen Indianer fingen an, loszurennen, mit dem schwarzen Häuptling an ihrer Spitze. Er war aber noch kaum zwanzig Schritte weit gekommen, als ihn ein Hagel aus Pfeilen erreichte und zu Boden streckte.

Es war aus mit ihm. Und seine Anhänger zerstreuten sich nach allen Seiten, wurde aber nicht weiter verfolgt. Es schien, als wenn alle Pfeile nur auf ihn allein gerichtet worden wären und, nachdem er getötet war, die Sache beendigt sei. Das Ganze dauerte etwa fünf Minuten.

Fortsetzung folgt: Kapitel 6 demnächst an dieser Stelle.

Eine kurze Einführung zu William Gilmore Simms gibt es hier. Und auf diesem Weg geht es zum 1. Kapitel.

Der Text folgt weitgehend der 2002 erschienenen Buchausgabe „Wigwam und Blockhaus“ von William Gilmore Simms. Die Grundlage ist die Übersetzung von Friedrich Gerstäcker aus dem Jahr 1846. Sie wurde sorgfältig durchgesehen, gelegentlich verbessert bzw. behutsam um die kleine Staubschicht auf der Sprache von vor 170 Jahren bereinigt, eventuell von Gerstäcker vorgenommene kleinere Kürzungen wurden wieder rückgängig gemacht. Das Copyright dieser Textfassung liegt beim Herausgeber Michael Klein.

William Gilmore Simms: Lenatewa – 3. Kapitel

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3. Kapitel

Werdet ihr mir glauben, wenn ich euch sage, dass hier keine Indianer, kein Feuer, keine junge Frau zu sehen waren?

Ich stand auf dem Platz, auf dem ich noch vor einem Augenblick die Flammen gesehen hatte – er war leer! Keine Spur eines Feuers, wohin ich auch blickte. Unter meinen Füßen raschelten dürre Blätter wie überall im Wald. Ich war wie betäubt, gleich einem, der durch einen sonderbaren Traum aus dem Schlaf geweckt wird. Alles um mich her war still und dunkel. Die Sterne, die über mir funkelten, verbreiteten das einzige Licht, aber ich fühlte mich noch entsetzter als vorher und empfand tief die Wahrheit, dass – wo menschliche Kraft uns verlässt – wir nur bei Gott Stärke finden können. Ich kniete nieder und betete – zum zweiten Mal in dieser Nacht, und vielleicht zum zweiten Mal im Wald überhaupt.

William Gilmore Simms: Wigwam und Blockhaus - CoverDanach fühlte ich mich beruhigter und nahm die Überzeugung mit mir, dass ich diese Erscheinung nicht ohne Grund gehabt hatte. Als ich mich auf den Heimweg begab, wurde Clinch munter und spitzte die Ohren. Ich klopfte ihm den Rücken und hielt mein Messer in Bereitschaft; vielleicht galt seine Aufmerksamkeit einem Panther, dessen Spur er in großer Entfernung witterte. Da er aber keine Furcht, sondern nur eine größere Lebhaftigkeit zeigte, wusste ich, dass nichts Gefährliches in der Nähe sein könne.

Einen Augenblick darauf sprang er schnell voraus, ich folgte ihm und vernahm, nachdem ich etwa zwanzig Schritt den Hügel hinab in eine Senke geeilt war, ein leises Stöhnen. Ich verdoppelte meine Schritte und gelangte am Ende dieser Niederung an eine Art Teich. Clinch lief darauf zu, und ein zweites Stöhnen ließ mich dieselbe Richtung nehmen. Als ich den Hund erreichte, stand er am Fuß eines alten, halb im Wasser versunkenen, umgestürzten Baums, ich sprang darauf und erblickte, nachdem ich einige Schritte vorwärts tat, ein menschliches Wesen, auf dem Stamm liegend, das Haupt nieder- und die Beine im Wasser hängend. Ich rief Clinch zurück und näherte mich dem Geschöpf, dessen Stöhnen wieder anhob.

Als ich seinen Kopf, sein Haar berührte, wusste ich, dass es ein Indianer war. Meine Finger klebten am Blut, mit dem er bedeckt war, und als ich versuchte, sein Haupt zu wenden, um sein Gesicht zu sehen, stöhnte er heftiger. Hier war keine Zeit zu verlieren, ich bückte mich zu ihm hinab, stemmte meine Füße fest auf den alten Baum, der glatt und schlüpfrig war, und brachte den armen Burschen ohne große Mühe von seinem Platz. Er war nicht schwer, ein Junge von etwa vierzehn bis fünfzehn Jahren – umso unbegreiflicher kam es mir aber vor, ihn in diesem Zustand zu finden. Ich legte ihn aufs trockene Laub nieder, worauf sein Stöhnen verstummte.

Anfangs glaubte ich, er sei jetzt tot, ich fühlte nach seinem Herzen, das aber noch matt zu schlagen schien. Die nächste Frage war: Was nun weiter beginnen? Es war spät in der Nacht, und da ich den ganzen Tag auf den Füßen gewesen war, hielt ich es kaum noch für möglich, selbst beim besten Willen, fähig zu sein, eine solche Last zu meiner Wohnstatt zu tragen. Ihn aber hier lassen hieß, ihn dem sicheren Tod preiszugeben. Wenn ich einen Sohn in vergleichbarer Lage hätte, dachte ich, was würde ich wohl von dem denken, der erst heimgehen und das Tageslicht zu seiner Hilfe abwarten wollte!

Nein, rief ich aus, möge es gehen, wie es wolle, ich verlasse den Jungen nicht! Ich schnürte meinen Gurt fester, nahm meine ganze Kraft zusammen und hob ihn auf meine Schultern.

Meine Hütte war etwa drei Meilen entfernt, und ihr könnt glauben, dass ich keine geringe Mühe hatte, sie mit meiner Last zu erreichen, und nicht wenig ermüdet war, als ich den armen Burschen bei meinem Feuer niederlegte. Ich rief nach Betsy, und wir bemühten uns nun beide, ihn wieder zum Leben zu bringen. Sie schnitt ihm das Haar ab und wusch ihm das Blut vom Kopf, der bis auf den Schädelknochen entweder mit einem Messer oder einem Beil gespalten war. Es schien ein Wunder, dass es nicht bis ins Hirn gedrungen war, denn gezielt war gut genug.

Als wir seine Kleider öffneten, fanden wir eine zweite tiefe Wunde in der Seite, die von einem Messer herrührte. Seine ganze Kleidung war mit Blut getränkt. Da wir aber nicht viel von Heilkunde verstanden, wuschen wir seine Wunden nur mit etwas Rum und Wasser aus und flößten ihm von ersterem ein wenig ein, worauf er anfing, lauter zu stöhnen, ein Beweis, dass mehr Leben in ihn zurückkehrte. Wir rieben seinen Körper mit warmen Tüchern und gaben ihm, als er sich leise zu regen begann, reichlich Wasser zu trinken. Dies schien ihm gut zu tun; wir hüllten ihn dann warm ein, und ich streckte mich an seiner Seite neben dem Feuer hin.

Es würde mich zu lange aufhalten, wenn ich euch erzählen wollte, wie er sich langsam nach und nach erholte. Genug, wir stellten ihn in kurzer Zeit wieder völlig her, ohne gerade mehr für ihn zu tun, als wir im Anfang getan hatten. Er war ein guter Bursche, obgleich zu Anfang sehr scheu, so dass er kaum wagte, uns anzublicken. Ich glaube, wäre er fähig gewesen, die Hütte zu verlassen, würde er es im ersten Augenblick getan haben, an dem er sich wieder bewegen konnte.

Er war aber zu schwach, einen solchen Versuch zu machen, und wurde auch bald durch unsere Freundlichkeit beruhigt. Nach und nach begann er, mit der kleinen Lucy zu spielen, die damals kaum sechs Jahre alt war, und schien dadurch bald am meisten aufgeheitert. Auch das Kind, nachdem es seine erste Furcht überwunden hatte, schloss sich dem Jungen an und spielte so gern mit ihm, als wenn er ein Weißer gewesen wäre.

Er kannte schon anfangs einige englische Worte und lernte schnell, sich auszudrücken; obwohl er für einen Indianer ziemlich mitteilsam war, konnte ich aber doch von ihm nicht erfahren, wie oder von wem er verwundet worden war. Seine Stirn verfinsterte sich, sobald ich davon sprach, und er presste seine Lippen zusammen, als ob er lieber kämpfen als reden möge. Ich drang nicht weiter in ihn, überzeugt, dass früher oder später sich die Sache einmal aufklären werde.

Fortsetzung folgt: Kapitel 4 demnächst an dieser Stelle.

Eine kurze Einführung zu William Gilmore Simms gibt es hier. Und auf diesem Weg geht es zum 1. Kapitel.

Der Text folgt weitgehend der 2002 erschienenen Buchausgabe „Wigwam und Blockhaus“ von William Gilmore Simms. Die Grundlage ist die Übersetzung von Friedrich Gerstäcker aus dem Jahr 1846. Sie wurde sorgfältig durchgesehen, gelegentlich verbessert bzw. behutsam um die kleine Staubschicht auf der Sprache von vor 170 Jahren bereinigt, eventuell von Gerstäcker vorgenommene kleinere Kürzungen wurden wieder rückgängig gemacht. Das Copyright dieser Textfassung liegt beim Herausgeber Michael Klein.

William Gilmore Simms: Lenatewa – 2. Kapitel

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2. Kapitel

Nun meine Freunde – sagte der siebzigjährige Veteran, seine Gestalt aufrichtend und den rechten Arm von sich streckend, während die linke Hand die Mündung seiner mit dem Kolben auf den Boden gestützten Flinte erfasste –, da die Nacht so hell und still war und ich kein Bedürfnis nach Schlaf fühlte, rief ich meinen Clinch und machte mich auf den Weg zu Jacob Ransom. Ich wusste, dass er ein schläfriger Bursche sei, und wenn die Rothäute jemanden unvermutet hätten überfallen können, wäre er es zuerst gewesen.

Ich gestehe indes, dass ich diesen Gang nicht nur seinetwegen, sondern unser aller, ja meiner selbst wegen tat, denn ich konnte mir die Gefahr nicht verhehlen, in der wir schwebten, wenn wir nicht vereint jedem Überfall Trotz böten. Schon der Gedanke, meiner Betsy langes, goldnes Haar um die Hand irgendeines farbigen Teufels geschlungen, die Kinder in seiner Armen zu erblicken, ohne dass ich als einzelner Mann ihnen hätte Hilfe bringen können – schon der bloße Gedanke war eine Hölle, und das Haar sträubte sich mir, wenn ich daran dachte. Ich stand still und betete, zu den Sternen aufblickend, während ich fühlte, dass wir alle in Gottes gnädiger Obhut lebten. Dies beruhigte mich einigermaßen wieder, und ich schritt mit frischem Mut weiter. Obwohl mir übrigens der Pfad bei Nacht so bekannt wie bei Tage war, ging ich doch nicht sehr schnell, weil ich beständig nach Feinden umherspähte.

Als wir nun bis an einen Graben gelangt waren, an dem sich der Weg teilte, indem der eine über die Hügel, der andere durch die Niederungen führte, wählte ich, ohne weiter darüber nachzudenken, den über die Hügel, obwohl er der längere war.

Wir gingen weiter, ich voran, Clinch dicht hinter mir. Er war ein ausgezeichnet guter Hund, von scharfer Witterung, doch schien jetzt nichts seine Aufmerksamkeit zu wecken. Der Hügel, den wir erstiegen, dehnte sich ziemlich steil empor, und als ich den armen Clinch ansah, der ermüdet schien, fiel mir ein, dass wir schon seit Tagesanbruch im Wald herumstreiften und dass das arme Tier müde und hungrig sein müsse; wir hatten indes schon den halben Weg zurückgelegt, und ich war nicht geneigt umzukehren, bis ich Jacob meine Meinung mitgeteilt hatte.

Als ich den Gipfel des Hügels erreichte, stand ich still und rieb mir die Augen, hatte auch alle Ursache dazu, denn ich erblickte in einiger Entfernung vor mir ein großes Feuer. Zuerst fürchtete ich, es wäre Jacobs Haus, doch besann ich mich bald, dass dieses weiter links gelegen und das Feuer offenbar rechts, mehr nach der Gegend meiner eigenen Wohnung hin sein musste.

Mein Erschrecken war groß, und ich durfte jetzt nicht daran denken, Jacobs Haus aufzusuchen, sondern wandte mich um und lief, von Clinch zögerlich gefolgt, dem Feuer zu. Die Bäume standen lediglich vereinzelt und auch Büsche gab es wenige, so dass wir durch nichts aufgehalten wurden. Mit welcher Angst und Schnelligkeit ich aber auch eilte, schien mir doch, als komme ich nicht von der Stelle – das Feuer brannte immer hell in gleicher Entfernung vor mir.

Ich stand still und sah meinen Hund an; er sah zu mir herauf, doch keiner von uns hatte etwas zu sagen. Schließlich schien mir doch, da ich so weit gelangt war, könne ich die Sache nicht aufgeben, und eilte aufs neue vorwärts. Wir erstiegen mehere kleine Hügel, hinauf und hinab und wieder hinauf, bis wir einen erreichten, den die Indianer Nolleehatchie nennen. Jetzt schien ich dem Feuer nähergerückt zu sein. Es brannte etwa zweihundert Schritt von mir entfernt auf einer kleinen Erhöhung und war ein ziemlich großes Feldfeuer, von mehr als einem Dutzend Indianer umgeben.

Gut, sagte ich mir, die haben uns ja tüchtig überrumpelt. Doch was ist zu tun? Keine Menschenseele in der Ansiedlung weiß Bescheid, und niemand wacht als ich. Wie leicht können die anderen in ihren Betten skalpiert oder von der Feuersbrunst geweckt und beim Versuch, dem Brand zu entkommen, von den Pfeilen der Indianer tödlich getroffen werden!

Kalter Schweiß überlief mich, als ich dies dachte, ich wusste nicht, was beginnen. Ich sah mich nach meinem Hund um und bemerkte zu meinem Erstaunen, dass er sich ruhig hingesetzt hatte, mich und die Sterne anschaute und das Feuer gerade vor uns gar nicht zu beachten schien. Und doch war Clinch ein ausgezeichneter Jagdhund, der die Spur eines Indianers auch aus weiter Entfernung witterte. Er verstand ich mich und wusste, ob er bellen dürfe oder nicht, auch war jetzt der Augenblick, wo er sich hätte still verhalten müssen – aber er schien das Feuer nicht einmal zu bemerken. Mir kam das von einem so klugen Hund ordentlich unnatürlich vor, dass er ganz ohne Aufmerksamkeit, mit schläfrigen, halb geschlossenen Augen dasaß und sich sogar, während ich ihn einigermaßen erzürnt betrachtete, niederstreckte, seine Nase auf die Füße legte und zu schlafen anfing.

Ich wurde derart zornig darüber, dass ich ihn beinahe mit meinem Messer ermordet hätte, doch besann ich mich eines besseren. Ein Hund kann am Ende ebensowenig dem Naturtrieb, der ihn zu schlafen zwingt, widerstehen wie ein Mensch, und dann wusste er ja auch nicht, dass die Indianer nicht mehr freundschaftlich gegen uns gesinnt waren.

So stand ich eine gute Weile da, schaute und wusste nicht, was ich tun sollte – bis ich mich endlich schämte, derart unentschlossen zu sein, und die Notwendigkeit bedachte, jetzt oder später vom Schlimmsten unterrichtet zu werden. Ich entschloss mich daher, so weit wie möglich vorzudringen.

Ich war kein ungeschickter Jäger, wie ihr euch denken könnt, und begann, als ich mich dem Feuer näherte, auf Händen und Füßen zu kriechen, legte mich, wo weder Baum, noch Busch mich verdeckte, platt auf den Boden und bewegte mich auf diese Weise vorwärts, von meinem Hund dicht gefolgt, der übrigens keine besondere Aufmerksamkeit zeigte.

Als ich auf diese Weise langsam näherrückte, schien das Feuer immer größer zu werden, und ich sah die Indianer zahlreich darum gelagert, doch hinderte mich der Rauch, der sie einhüllte, dass ich ihre Gestalten deutlich unterscheiden konnte.

Jetzt war ich an einem Punkt angelangt, von dem aus ich alles genau zu übersehen meinte. Ich hatte mich hinter einem Felsvorsprung verborgen, von dem sie kaum zwanzig Meter entfernt und durch Buschwerk getrennt waren. Es vergingen indes mehrere Minuten, bis es mir möglich war, durch den wirbelnden Rauch ihre Bewegungen zu erkennen, und als ich sie endlich deutlich sah, erschütterte mich der Anblick in tiefster Seele. In der Mitte dieser Rothäute stand ein weißes Wesen, und diese Wesen schien eine Frau zu sein.

Ich täuschte mich nicht. Da saßen die Indianer, einige mit dem Rücken gegen mich gewandt, andere mit dem Gesicht mir zugekehrt, und dort ein wenig seitwärts, aber in ihrer Mitte, saß eine Frau. Wenn der Rauch für Momente fortgeweht wurde, sah ich ihr weißes Antlitz wie einen hellen Stern durch dunkle Wolken schimmern; sie erschien mir aber so totenbleich, dass mich der Gedanke erfasste, der Schreck hätte sie getötet. Ich überzeugte mich freilich bald, dass dies nicht der Fall war, denn sie saß lediglich ruhig da und blickte ihre Umgebung an. Die Indianer waren regungslos, sie lehnten oder lagen in derselben Stellung, in der ich sie zuerst gesehen hatte, bewegten sich nicht, sprachen nicht, waren starr wie der Stein, über den ich mich lehnte. Ich vermochte kein Gesicht unter ihnen zu erkennen, obwohl ich ihre Gestalten, eingehüllt in Büffelhäute und Tücher, genau unterscheiden konnte. Ihre Züge blieben durch Rauch und Dunkelheit verborgen. Die Frau sah ich aber deutlich. Sie schien sehr jung, etwa fünfzehn Jahre zu sein, und es war mir, als müsse ich sie kennen. Sie war schön, ihr Haar hing aufgelöst über ihre Schultern. Mein Herz schlug heftiger, je länger ich sie ansah. Ich hätte für sie sterben mögen und fühlte doch nicht Kraft genug, meine Flinte von der Schulter zu nehmen.

Das Wundersamste bei der ganzen Sache war die vollständige Regungslosigkeit der Indianer. Kein Wort wurde gesprochen, nichts rührte sich – es war, als wären sie bloße Bilder, die das Mädchen anstarrten und ihrerseits von dem Mädchen angestarrt wurden.

Nie zuvor im Leben fühlte ich mich derart von Furcht und Schwäche gelähmt. Was sollte ich tun?

Ich war so nahe herangekommen, dass ich mit einem Wurf jedem der Versammlung hätte mein Messer ins Herz schleudern können, hatte aber nicht den Mut, es zu tun. Ohne mich zu besinnen, wo ich mich eigentlich befand, fing ich an, wie ein Kind zu weinen. Aber auch mein Weinen veranlasste sie nicht, sich umzublicken, nur mein guter Hund sprang sogleich winselnd an mir herauf, als wolle er mich trösten. Ich versuchte nun, ihn auf die Lagernden zu hetzen, er schien mich aber nicht zu verstehen. Meine Verzweiflung stieg zu einer Art Wahnsinn, und ich sprang vorwärts mitten in die Versammlung hinein, fest entschlossen, lieber zu sterben, als noch länger in diesem qualvollen Zustand des Entsetzens zu verharren.

Fortsetzung folgt: Kapitel 3 demnächst an dieser Stelle.

Eine kurze Einführung zu William Gilmore Simms gibt es hier. Und auf diesem Weg geht es zum 1. Kapitel.

Der Text folgt weitgehend der 2002 erschienenen Buchausgabe „Wigwam und Blockhaus“ von William Gilmore Simms. Die Grundlage ist die Übersetzung von Friedrich Gerstäcker aus dem Jahr 1846. Sie wurde sorgfältig durchgesehen, gelegentlich verbessert bzw. behutsam um die kleine Staubschicht auf der Sprache von vor 170 Jahren bereinigt, eventuell von Gerstäcker vorgenommene kleinere Kürzungen wurden wieder rückgängig gemacht. Das Copyright dieser Textfassung liegt beim Herausgeber Michael Klein.

William Gilmore Simms: Lenatewa – 1. Kapitel

William Gilmore Simms - Lenatewa (Header)

1. Kapitel

An der Grenze zwischen Nord- und Süd-Carolina leben wahrscheinlich noch einige betagte Leute, die sich des alten, ehrwürdigen Daniel Nelson erinnern, der, hoch an Jahren, um 1817 herum dort lebte. Zu jener Zeit zog er von da fort nach Mississippi, wo er, wie wir glauben, innerhalb dreier Monate, nachdem er seinen Wohnort geändert hatte, starb, einem alten Baum ähnlich, der keine Verpflanzung mehr erträgt, sondern eingeht. Daniel kam in seiner Jugend aus Virginia und war einer der ersten, die sich in den südlichen Grenzgebieten Nord-Carolinas niederließen und später in jener Gegend den größten Teil ihres Lebens verbrachten.

Zu jener Zeit war nicht nur das ganze Land Wald, sondern auch noch von vielen Indianern bewohnt, und mehrere Stämme hatten dort ihr bevorzugtes Jagdrevier. Dieser Umstand schreckte indes Nelson nicht ab. Er selbst war noch ein kräftiger, breitschultriger junger Mann mit feurigem Auge und gleich feuriger furchtloser Seele, und er hatte – wenn auch wenige –- Gefährten, die ihm in all diesem kaum nachstanden, denn der Geist des alten Daniel Boone war damals verbreiteter, als man wohl glaubt. Das Abenteuer lockte ihre Herzen, die Gefahr schien sie in ihrem Leben nur noch zu bestärken und die Härten und Mühsal ihr kräftiger Körper gerade zu beghren.

Nachdem sie die Gegend durchstreift, Wild in Massen erlegt, Bären und Büffel, Rehe und Truthähne, die es zu jener Zeit im Überfluss gab, gekostet hatten, kehrten sie noch einmal zurück, um sich das Nötigste für einen tapferen Waldbewohner zu holen, nämlich eine gute, muntere, furchtlose Frau, die – dem Weib in der Schrift gleich – dem Mann ihrer Neigung folge, wohin er auch gehe. Diese jungen, kühnen Jäger fürchteten sich nicht, in Gegenden, die so entfernt vom sicheren Schutz der Zivilisation waren, eine Heimat zu gründen. Sie hatten mit den Indianern Bekanntschaft und eine Art Freundschaft geschlossen, doch mag sie das Bewusstsein ihrer stärker befestigten Behausungen, ihres größeren Mutes und ihrer besseren Waffen verführt haben, ein wenig zu gering von den Wilden zu denken, ohne sich deshalb doch in trügerischer Sicherheit zu wiegen. Ihre Blockhäuser waren darauf eingerichtet, sich im Notfall in Festungen zu verwandeln; auch wohnten sie nicht zu entfernt voneinander, damit sie sich gegenseitig zu Hilfe kommen konnten. Mit einem Vorrat Bärenfleisch und Wild stets verproviantiert, wurden diese kleinen Festungen dadurch in die Lage gesetzt, sich für den Fall, dass sie von den in Gruppen umherstreifenden Indianern belagert würden, mehrere Monate lang zu halten.

Auf solche Weise nahmen die kühnen Ansiedler Besitz von dem Boden und bereiteten einer mächtigen Nachkommenschaft den Weg. Obgleich sie lieber auf der Jagd und der ermüdenden Landarbeit eher abgeneigt waren, versäumten sie doch auch in dieser Hinsicht ihre Aufgaben nicht. Die dem Wald abgewonnenen Ländereien dehnten sich mit jedem Jahr mehr aus. Mais hatten sie in Fülle zu ihrem Bärenfleisch, und die zunehmenden Bequemlichkeiten zeugten vom wachsenden Wohlstand der Ansiedler. Nach und nach wurden sie auch unbesorgter, was die Nachbarschaft der Wilden anging, und ließen nach in ihrer Wachsamkeit, mit der sie früher jede Annäherung auch der freundschaftlich gesinnten Stämme beobachtet hatten. Fünf Jahre ungestörter Ruhe rechtfertigten freilich das Vertrauen, das sie mit der Zeit zu ihren wilden Nachbarn gefasst hatten und das sie im Gefühl der Sicherheit ihrer eigenen Lage bestärkte.

Am Ende dieses Zeitraums jedoch schienen sich die Dinge anders gestalten zu wollen. Die Indianer wurden unruhig. Entferntere Stämme, die verstärkt in Berührung mit den größeren Niederlassungen der Weißen kamen, von diesen im Handel übervorteilt oder durch Alkohol demoralisiert wurden, beklagten sich über ihr Unglück und das Unrecht, das ihnen angetan wurde, oder hatten vielleicht auch, angezogen von den Habseligkeiten der Weißen, das Verlangen, diese Schätze in Masse zu besitzen, die ihnen bis dahin nur in geringem Maß zuteil wurden. Ihre Klagen und Wünsche teilten sie ihren im Innern lebenden Brüdern mit, und unsere Ansiedler wurden durch die Veränderungen, die sie in ihrem Umgang mit den verschiedenen Stämmen und in deren Gesinnungen wahrnahmen, oft beunruhigt.

Wir wollen uns nicht mit einer ausführlichen Beschreibung der sich vorbereitenden Feindseligkeit aufhalten, die schon an anderen Orten hinreichend beschrieben worden ist – genug, dass unsere kleine Kolonie sie bald bemerkte und insbesondere Daniel Nelson ein Auge darauf hatte. Er wurde besorgt, aber nicht ängstlich, und während er sich als guter Ehemann bemühte, seine Frau durch seine Mitteilung nicht zu erschrecken, hielt er es doch für seine Pflicht, sie auf das Schlimmste vorzubereiten. Nachdem er dies getan hatte, fühlte er sich etwas erleichtert, doch wenn er sein fünfjähriges Mädchen aufs Knie nahm und den kleinen Jungen auf dem Schoß der Mutter anblickte, erneuerte sich seine Besorgnis. Er entschloss sich daher, die in letzter Zeit vernachlässigten Vorsichtsmaßnahmen wieder aufzunehmen, und sobald er das Abendessen eingenommen hatte, steckte er sein Jagdmesser zu sich, nahm seine Flinte und rief seinen treuen Hund Clinch, um den Wald in der Nähe seiner Wohnung zu durchstreifen.

Bei dieser Beschäftigung verstrich einige Zeit, und da die Luft mild war und ein glänzender Sternenhimmel die Nacht erhellte, er sich auch in etwas zu unruhiger Gemütsstimmung fand, entschloss er sich, durch den Wald in Richtung der etwa vier englische Meilen entfernten Niederlassung Jacob Ransoms zu gehen, um ihn – und durch ihn seine übrigen Gefährten – auf die Notwendigkeit der Wiederaufnahme ihrer früheren Wachsamkeit aufmerksam zu machen.

Die Ereignisse dieser Nacht überlassen wir nun seiner eigenen Mitteilung, wie wir sie ihn hundertmal haben erzählen hören – und zwar in einem Alter, in dem er, dem Grab nahe, weder eine Unwahrheit, noch sonst etwas gesagt haben würde, von dem er nicht selbst fest überzeugt gewesen wäre.

Fortsetzung folgt: Kapitel 2 demnächst an dieser Stelle.

Eine kurze Einführung zu William Gilmore Simms gibt es hier.

Der Text folgt weitgehend der 2002 erschienenen Buchausgabe „Wigwam und Blockhaus“ von William Gilmore Simms. Die Grundlage ist die Übersetzung von Friedrich Gerstäcker aus dem Jahr 1846. Sie wurde sorgfältig durchgesehen, gelegentlich verbessert bzw. behutsam um die kleine Staubschicht auf der Sprache von vor 170 Jahren bereinigt, eventuell von Gerstäcker vorgenommene kleinere Kürzungen wurden wieder rückgängig gemacht. Das Copyright dieser Textfassung liegt beim Herausgeber Michael Klein.

Mit William Gilmore Simms in die amerikanische Pionierzeit

William Gilmore Simms - Lenatewa (Header)

Simms? Wer um alles in der Welt ist Simms?

Keine Frage, die Tage werden herbstlich kürzer, die Abende dunkler, die Lesezeit für den, der mag, entsprechend länger. Ein schöner Grund an dieser Stelle für das Prinzip des gehobenen Fortsetzungsromans, und deshalb unternehmen wir in den nächsten Wochen eine Zeitreise in die amerikanische Pionierzeit. Und zwar mit dem Schriftsteller William Gilmore Simms.

Simms? Wer um alles in der Welt ist Simms?

William Gilmore Simms

William Gilmore Simms (Ausschnitt aus einem Ölgemälde eines unbekannten Künstlers)

Zu Lebzeiten (1806-1870) ein immens erfolgreicher und populärer Autor, als „amerikanischer Walter Scott“ oder „Cooper des (nordamerikanischen) Südens“ gefeiert und wegen seiner Produktivität und Vielseitigkeit mit Balzac verglichen. Freilich geriet sein Werk später in Vergessenheit, bis es in den USA in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts langsam wiederentdeckt wurde. „Er ist einer der größten amerikanischen Autoren des 19. Jahrhunderts und heute der zu Unrecht unterschätzteste“, schreibt James Everett Kibler Jr. in der von Steven R. Serafin 1999 herausgegebenen „Encyclopedia of American Literature“. Und der Simms-Kenner Keen Butterworth hält an anderer Stelle fest: „Seine bedeutendsten Werke verdienen ein besseres Schicksal. Sie haben nichts an Kraft verloren, und in ihnen finden wir die lebendigsten und genauesten Beschreibungen des kolonialen Amerika, des Unabhängigkeitskrieges und der Frontier des Südens in unserer Literatur.“

Wer durch diese Zeilen Interesse gewinnt, kann diese Urteile selbst überprüfen. Der nächste Blog-Beitrag beginnt Simms’ Novelle „Lenatewá“. Die Grundlage für die Textfassung ist die Übersetzung von Friedrich Gerstäcker aus dem Jahr 1846. Sie wurde sorgfältig durchgesehen, gelegentlich verbessert bzw. behutsam um die kleine Staubschicht auf der Sprache von vor 170 Jahren bereinigt, eventuell von Gerstäcker vorgenommene kleinere Kürzungen wurden wieder rückgängig gemacht.

MICHAEL KLEIN

 

Je länger, desto Ohrwurm: „See-Land“

See-Land: Liebeslied

EP

Auf WDR 2 wurde diese Musik vorgestellt, inzwischen höre ich sie seit Wochen. „See-Land“ heißt das Musikprojekt, dessen Kopf und Zentrum der Komponist und Gitarrist Martin Deville ist. Fünf Stücke sind auf einer ersten EP veröffentlicht und über YouTube, iTunes oder Spotify abrufbar. Bekanntlich gibt es Musik, die sich nach mehrmaligem Hören zu erschöpfen beginnt, und andere, die etwas Überdauerndes an sich hat. Diese Musik gehört zur zweiten Sorte.

See-Land, Liebeslied, EP 2019Der Einstieg ist das titelgebende „Liebeslied“, ein niveauvoller Ohrwurm, eine angenehm verhaltene Hymne mit poetisch-gewitztem Text und stillem Jubel, denn da finden sich gerade zwei. Man achte auf den Beginn, ohne Intro, ohne Umweg, stark und treffend wie die Liebe auf den ersten Blick.

Mein eindeutiger Favorit unter den fünf Stücken ist „Dein eigenes Echo“, eine atmosphärisch ungemein dichte Klavierkomposition, hinreißend eingespielt, wundervoll im Sound, minimalistisch konzentriert – kein Ton zuviel, keiner zu wenig, alles reduziert auf die maximale Essenz. Es wirkt ein bisschen, als habe sich ein faszinierter Erik Satie ganz in die Betrachtung eines Gemäldes von Edward Hopper vertieft. Drei Minuten voller Klarheit, melancholisch, von zeitloser Schön- und Entrücktheit. Habe ich das Stück gehört, beginne ich es von vorn. Magisch.

In „Ein einziger Garten“ wandeln wir nicht durch gepflegte Blumenbeete und an frisch geschnittenen Hecken entlang, sondern werden überraschender Weise in einem Moment der stillen Freude und des inneren Friedens harmonisch sanft aufs Meer hinausgetragen. „Der Wetterleuchter“ beschwört den Einsatz für die eigenen Überzeugungen und Utopien, die es nicht aus den Augen zu verlieren gilt, kämpferisch im Text, offen und hoffnungsfroh in der Musik. Alle diese Stücke entwickeln sich beim Hören, sind ohne Abnutzungserscheinungen, jenseits jeder schlichten Eingängigkeit, jedes Mal noch etwas besser, als sie beim letzten Durchgang waren.

Weil nichts über das eigene Urteil geht, folgen an dieser Stelle die entscheidenden Links. Zur WDR-Vorstellung von „See-Land“ geht es hier. Weitere Informationen enthält die Website von „See-Land“, über die sich alle Stücke anhören lassen. Wobei der Hinweis nicht fehlen darf, dass es eine (leider nicht käuflich zu erwerbende) Promotion-CD gibt, die die Stücke noch weit besser – weil im Sound deutlich brillanter – zur Geltung bringt. Und direkt zum YouTube-Videoclip von „Liebeslied“ führt schließlich der Klick hier.

MICHAEL KLEIN

Großes Fernsehkino: Les Miserables (BBC 2019)

Vor einigen Wochen hatte ich das Vergnügen, in einem Kellerfund alter Fernsehzeitschriften aus den späten 60iger und frühen 70iger Jahren zu blättern – und man reibt sich dabei verdutzt die Augen. Die Selbstverständlichkeit, mit der seinerzeit mehrteilige Verfilmungen großer, klassischer Literatur die Hauptsendezeit bevölkerten, ist von unserer Gegenwart schier Lichtjahre entfernt. Man stelle sich die Reaktion heutiger Fernsehredakteure vor, wenn man ihnen die Verfilmung klassischer Werke von Dostojewski, Tolstoj, Maupassant, Twain, Stevenson oder Tschechow vorschlüge. Selbst der von mir so überaus geschätzte und in Deutschland (mit der einzigen Ausnahme von „Peter Pan“) so gut wie nicht zur Kenntnis genommene James M. Barrie erlebte damals eine kleine Blüte deutscher Fernsehproduktionen seiner Theaterstücke. Leider lag das vor meiner Zeit.

Ein Klassikerverfilmungs-Edelstein dieses Jahres kommt aus England, wo der inzwischen über 80jährige Andrew Davies, in alter und frischer Form zugleich, vorführt, was die Welt durch formidable Literaturverfilmungen gewinnt. Vor zwei Jahren hat er eine mitreißend gelungene, sechsteilige Neuverfilmung von Tolstojs „Krieg und Frieden“ auf die Beine gestellt, die sich im deutschen Free-TV-Hauptabendprogramm als Erstpräsentation exzellent gemacht hätte (aber siehe oben), nun hat er sich Victor Hugos Mammutwerk „Les Miserables“ angenommen – über sechs Stunden lang und faszinierend von Beginn an.

Andrew Davies' Les Miserables auf DVD und BluRayLes Miserables“ bzw. „Die Elenden“ ist ein großes, christlich-humanistisch geprägtes Prosa-Epos um den Ex-Sträfling Jean Valjean, den 19 Jahre Zwangsarbeit wegen eines Brotdiebstahls verhärtet haben. Für die Gesellschaft ist er ein „Verbrecher auf Lebenszeit“, aber die Begegnung mit einem Bischof, der den Geist des Evangeliums lebt, verändert Valjean tiefgreifend. Unter falschem Namen fasst er wieder Fuß und versucht, ein zurückgezogenes und menschenfreundliches Leben zu führen. Doch er hat einen Gegenspieler: den obsessiven Ordnungshüter Javert, dem die Prinzipien, Gesetze und Anordnungen einer überkommenen Zeit über jede Menschlichkeit gehen.

Der monumentale, zeitlose, einen erfreulich immensen Lesesog erzeugende Roman ist angesiedelt in den Wechselfällen der französischen Geschichte zwischen 1815 und 1834, ein Werk von positiv überbordender Handlungs- und Reflektionsfülle (der Umfang ist mehr als 1.000 Seiten stark), das an Dramatik, Kompositionskunst und Atmosphäre nichts zu wünschen übrig lässt. Psychologische und Handlungsspannung aufzubauen, um seinen Ideen und Idealen Ausdruck und Verbreitung zu schaffen – Victor Hugo gelang es vortrefflich.

Les Miserables“ ist vielfach verfilmt worden, und die Ausnahme-Qualität von Hugos Roman erweist sich unter anderem darin, dass es fast unmöglich ist, einen schlechten Film aus diesem Stoff zu kreieren. Die beste Verfilmung für unsere Zeit ist nun eindeutig die aktuelle BBC-Verfilmung. Andrew Davies feilt, konzentriert, variiert, Regisseur Tom Shankland und Kameramann Stephen Pehrsson finden dafür die beeindruckend weiten Bilder und die dichte Intensität des Schauspiels. Die Rolle des Javert wird überraschend von David Oyelowo, also einem Schwarzen verkörpert, was den Romankenner zunächst verwirrt, sich aber im Lauf der Adaption als findiger Kniff erweist, Blickgewohnheiten umzukehren. Davies scheut sich auch nirgends, die tiefe Düsterkeit des Stoffs auszuspielen, im Gegenteil, unter der packenden, durchweg hochspannenden Handlung lauert stets ein tiefer Pessimismus.

Andrew Davies’ „Les Miserables“ ist allergrößtes Fernsehkino, und auch das ist die Wirkung solcher Produktionen: Man bekommt sofort Lust, den Roman (wieder) zu lesen. In Großbritannien und den USA lief die Serie mit dem, was laut deutschen Sendern angeblich gar nicht möglich ist, nämlich „trotz“ hohen Niveaus und Literatur-Affinität breitem Erfolg bei Kritik und Publikum zugleich. Wer sich für die dunklen Herbstabende mit erstklassigem Lese- und Sehstoff versorgen will – und wer sich zudem daran erinnert, dass Letzteres einst einmal auch bei uns ein Standard war –, dem seien sowohl der Roman (beim Kauf auf eine ungekürzte Ausgabe achten!) als auch die BBC-Serie empfohlen. Die englische DVD und BluRay sind längst erschienen, die deutsche Fassung ist für den 15. November angekündigt.

MICHAEL KLEIN

»Moby Dick« als Graphic Novel von Chabouté

Aus der Reihe: Berichte aus dem Bildermeer

Chabouté nach Herman Melville: Moby Dick

Egmont, gebunden

»Moby Dick« ist einer der zeitlosen Klassiker der Weltliteratur, bei seinem Erscheinen 1851 freilich völlig verkannt und lediglich lausig verkauft. Das Buch wurde ein Wendepunkt in der Schriftstellerlaufbahn seines Autors Herman Melville (1819-1891), dessen Geburtstag sich im August dieses Jahres zum 200. Mal jährte. Und nicht etwa, wie man heute denken sollte, ein Wendepunkt hin zum Erfolg – den hatte Melville zuvor schon mit den stark autobiographisch gefärbten Romanen »Typee« und »Omoo« gehabt –, sondern im Gegenteil zu einer bis zu seinem Tod anhaltenden Phase des Misserfolgs und der zunehmenden Verarmung. Erst nach Melvilles Tod wurde die enorme Wucht, stilistische Qualität und Komplexität des Romans gewürdigt.

Chabouté, Moby Dick, Graphic Novel, CoverDer 1967 im Elsass geborene französische Comic-Zeichner und Illustrator Chabouté hat den Stoff als große Graphic Novel adaptiert. Die Qualität des Beginns ist freilich noch ungleichgewichtig. Ismael, die Erzählerfigur, kommt beispielsweise mit Glubschaugen, Knollennase und tiefgezogenen Mundwinkeln daher, was ihm kein melancholisches, sondern ein tranfunzeliges Aussehen verleiht. Überhaupt liegt anfangs eine Schwäche in der ungenügenden Gesichterausformung und in ihren zu häufig effekthascherisch statisch-stieren Blicken. Andererseits überzeugen die kontrastreichen SW-Bilder von Beginn an in den wortlosen, scherenschnitt-artigen Schatten-Passagen, die ungeheure Dramatik entfalten.

Und nach mittelprächtigem Beginn gewinnen dann doch immer mehr die Düsterkeit der Geschichte und die obsessive Dynamik der irrwitzigen Rachegeschichte um den weißen Wal die Oberhand. Wenn Kapitän Ahab nachts allein über das Deck seines Walfängers schreitet, der indianische Harpunier Queequeg seinen nahenden Tod zu spüren vermeint oder Ahab seine frisch geschmiedete Wallanze in Blut taufen lässt, laufen Chaboutés Zeichnungen zu großer Form auf. Es ist, als habe sich auch Chabouté während der Arbeit immer mehr und sehr zum Vorteil seiner Graphic Novel in Ahabs finsteren Bann ziehen lassen.

MICHAEL KLEIN

Christopher Ecker – Das Schild

 

Vor einer Woche wurde an dieser Stelle Christopher Eckers Erzählminiaturen-Band „Andere Häfen“ vorgestellt, und wie dort angekündigt folgt nun diesmal, mit freundlichem Einverständnis des Autors, ein (von mir) ausgewählter Beispieltext aus diesem Buch.

Es ist eine Freude, diesen Text hier präsentieren zu können:

 

DAS SCHILD

Unterwegs zur Buchmesse, als er gerade im Abteil Platz genommen hatte, stellte er fest, dass er keineswegs, wie er die ganze Zeit gedacht hatte, ein Autor war. Er hatte, wurde ihm bewusst, nie ein Buch veröffentlicht. Außerdem hatte er nie eines geschrieben. Ja, begriff er mit einer Belustigung, die ihm unter anderen Umständen Angst gemacht hätte, er hatte nie auch nur eine einzige Zeile geschrieben, die es verdient hätte, „literarisch“ genannt zu werden. Also was mache ich hier?, fragte er sich. Weshalb fahre ich zur Buchmesse? Plötzlich stellte er fest, dass er seinen Namen vergessen hatte. Nachsichtig lächelnd nahm er den Ausweis aus der Brieftasche und starrte ihn lange an. Dann steckte er ihn in die Brieftasche zurück und verstaute diese umständlich in der Jackentasche. Er sah aus dem Fenster. Der Zug stand noch immer im Bahnhof. Warum sollte er denn nicht zur Messe fahren? Und mit diesem Gedanken lehnte er sich behaglich in seinem neuen Leben zurück wie in einem Liegestuhl, aber da erstarrte er: Hatte er die Kaffeemaschine ausgeschaltet? Besaß er überhaupt eine Kaffeemaschine? Wohnte er denn in dieser Stadt, deren Bahnhof er nicht kannte? Und wieso war er sich eigentlich so sicher, dass er zur Buchmesse fuhr? Eine Taube mit verkrüppeltem Fuß hüpfte über den Bahnsteig. Wie kann eine solche Geschichte enden? Warum sollte man so etwas aufschreiben? Wieso es lesen? Wäre er zu Hause, was auch immer das heißen mochte, hätte er die Wohnungstür geöffnet, um auf dem Klingelschild nachzusehen, wer er war.

Christopher Ecker, Andere Häfen, Titel

 

Aus:

Christopher Ecker: Andere Häfen

MDV, gebunden