Christopher Ecker – Das Schild

 

Vor einer Woche wurde an dieser Stelle Christopher Eckers Erzählminiaturen-Band „Andere Häfen“ vorgestellt, und wie dort angekündigt folgt nun diesmal, mit freundlichem Einverständnis des Autors, ein (von mir) ausgewählter Beispieltext aus diesem Buch.

Es ist eine Freude, diesen Text hier präsentieren zu können:

 

DAS SCHILD

Unterwegs zur Buchmesse, als er gerade im Abteil Platz genommen hatte, stellte er fest, dass er keineswegs, wie er die ganze Zeit gedacht hatte, ein Autor war. Er hatte, wurde ihm bewusst, nie ein Buch veröffentlicht. Außerdem hatte er nie eines geschrieben. Ja, begriff er mit einer Belustigung, die ihm unter anderen Umständen Angst gemacht hätte, er hatte nie auch nur eine einzige Zeile geschrieben, die es verdient hätte, „literarisch“ genannt zu werden. Also was mache ich hier?, fragte er sich. Weshalb fahre ich zur Buchmesse? Plötzlich stellte er fest, dass er seinen Namen vergessen hatte. Nachsichtig lächelnd nahm er den Ausweis aus der Brieftasche und starrte ihn lange an. Dann steckte er ihn in die Brieftasche zurück und verstaute diese umständlich in der Jackentasche. Er sah aus dem Fenster. Der Zug stand noch immer im Bahnhof. Warum sollte er denn nicht zur Messe fahren? Und mit diesem Gedanken lehnte er sich behaglich in seinem neuen Leben zurück wie in einem Liegestuhl, aber da erstarrte er: Hatte er die Kaffeemaschine ausgeschaltet? Besaß er überhaupt eine Kaffeemaschine? Wohnte er denn in dieser Stadt, deren Bahnhof er nicht kannte? Und wieso war er sich eigentlich so sicher, dass er zur Buchmesse fuhr? Eine Taube mit verkrüppeltem Fuß hüpfte über den Bahnsteig. Wie kann eine solche Geschichte enden? Warum sollte man so etwas aufschreiben? Wieso es lesen? Wäre er zu Hause, was auch immer das heißen mochte, hätte er die Wohnungstür geöffnet, um auf dem Klingelschild nachzusehen, wer er war.

Christopher Ecker, Andere Häfen, Titel

 

Aus:

Christopher Ecker: Andere Häfen

MDV, gebunden

Christopher Ecker – Andere Häfen

Aus der Reihe: Bücher, die sich wirklich lohnen

   Christopher Ecker: Andere Häfen

   MDV, gebunden

Meister-Miniaturen in Serie

Schon der Beginn ist furios, denn obwohl – mehrfach kontrolliert! – alles in bester Ordnung zu sein scheint, wird uns als Lesern der Boden bereits nach wenigen Zeilen ein wenig unsicher. Ein Mensch will aus dem Haus gehen und würde es ganz gewiss auch tun, wären da nicht die jedermann hinlänglich bekannten Allerweltsbedenklichkeiten: Sind die Lichter auch alle aus? Die Fenster geschlossen? Ist der Wasserkocherstecker gezogen? Der Computer heruntergefahren? Hat man nichts vergessen? Gewissenhaft wird nachgesehen. Vor dem endgültigen Schließen der Haustür stellen sich dennoch erneut dieselben Fragen ein. Zur Sicherheit lieber noch einmal das Nachgesehene nachsehen? Für alle Fälle: ja. Beruhigend: Alles, wie es sein soll, also Aufbruch. Und an diesem Punkt endet die alltagsnahe Schilderung und die Situation schraubt sich plötzlich tief ins Abgründige. Der besagte Mensch ist nicht zu beruhigen. Durch eine (in den Text kurz eingeflochtene) Lebenserfahrung bis auf die Grundfesten irritiert, sind ihm jegliche Gewissheiten abhanden gekommen. Sind die Lichter denn wirklich alle aus? Und die Fenster tatsächlich geschlossen…

Christopher Ecker, Andere Häfen, TitelDas ist hinreißend geschrieben und heißt „Zum Geleit“, als rechte Einstimmung sozusagen mit Vorwortfunktion und Warnhinweis in einem: Wir sollten vor der Lektüre des Kommenden noch einmal überprüfen, ob alles am Platz und in Ordnung ist. Dreißig Zeilen lang ist dieser Text, eine Kürzestgeschichte. Der Erzählband „Andere Häfen“ von Christopher Ecker (1967 geboren, „Fahlmann“, „Die letzte Kränkung“, „Der Bahnhof von Plön“) besteht aus lauter Kürzestgeschichten, 87 Stück an der Zahl auf 200 Seiten, ihre Länge reicht von einer halben Seite bis zu drei voluminösen Ausreißern, die es auf über 10 bringen. Und wir betreten in ihnen eine Welt der Ungewissheiten, Rätselhaftigkeiten, grotesken Wendungen, Verdrehtheiten und Bizarrerien, in der mal spielerisch, mal bitterböse-düster, aber immer originell, fein fabuliert und mit leuchtendem oder schwarzem Humor alles ganz anders ist, als wir es kennen oder es uns erscheint. In Eckers Welt ist „Wasser das Gegenteil von umblättern“, und in kaleidoskopartigen Ausformungen, Varianten und Brechungen geht es bekannten Erzählkonventionen ebenso an den Kragen wie festgefügten Vorstellungen von Identität. Ein durchgängiges Motiv ist die Auflösung der Wirklichkeit, wie wir sie kennen, ja die Grundsatzfrage, ob oder inwieweit es unsere Wirklichkeit eigentlich gibt, wie weit – oder genauer: wie wenig weit – sie reicht. Das nimmt alptraumhafte, kafkaeske, märchenhafte oder frei verspielte Züge an und zielt weiter ins Grundsätzliche.

Wir lesen zum Beispiel die Lebensgeschichte eines jungen Märchens („der Vater ist ein sehr strenges Märchen mit religiöser Moral und seine Mutter ein eher weitschweifiges Märchen voller unlogischer Wendungen“), die aus den verworrenen Teenagerjahren auf traurigen Pfaden in den Schreckenskeller eines Uhrmachers führt – ein finsterer, gleichwohl vergnüglich-aberwitziger Text, der uns in seinem grandiosen Einfallsreichtum die beliebte Schlusswendung zum Happy-End vorenthalten muss. Ein Mieter sieht sich bei einer Wohnungsabnahme überraschend einem Heer von Vermietern gegenüber – und auch er nimmt schließlich ein schlimmes Ende. In einer anderen Geschichte geht es um einen Film, in dem zwei Bundeswehr-Feldwebel Blutwurst aus Eigenblut herstellen und verzehren – wie es ausdrücklich heißt: nach einer wahren Begebenheit. Und nach Jahrzehnten tritt einem anderen Protagonisten eine längst vergessene Frau noch einmal ins Leben – und verlässt es sogleich wieder, aber wie!

Gerne führen die Erzählungen ins Düstere, Abgründige und vollends Groteske, freilich tun sie das gleichzeitig unerbittlich wie mit augenzwinkerndem Humor, heiter-doppelbödigem Wahnwitz oder selbstironischen Einschüben („Sie unterbrach die Verbindung, warf das Handy, wie es eine Figur in Eckers Romanen getan hätte, aufs Sofa und ließ Badewasser ein“).

Eine Geschichte ist dann zu Ende gedacht, wenn sie ihre schlimmstmögliche Wendung genommen hat“, schrieb Friedrich Dürrenmatt einst. Bei Ecker bekommt man das par excellence. „Als hätte man mein Dasein über Nacht mit grotesken Kulissen ausgestattet“, erklärt eine Figur einmal ihre Befindlichkeit, und der Leser kann diese Eindrücke teilen, wenn er die „Anderen Häfen“ besegelt. Kürzestgeschichten verlangen vom Autor vor allem die Fähigkeit, Sachverhalte, Motive und Atmosphären ebenso schnell wie präzise auf den Punkt zu bringen. Ecker ist darin bestechend souverän. Das Buch ist – versprochen – ein Genuss.

Und weil es nichts Besseres gibt, als sich von derlei Einschätzungen ein eigenes Bild machen zu können, gibt es jetzt eine hocherfreuliche Nachricht: Der nächste Beitrag an dieser Stelle besteht, mit freundlichem Einverständnis des Autors, aus einem vollständigen Beispieltext aus diesem Buch.

MICHAEL KLEIN

 

Frisch ausgepackt: „Die Tage des Grauens und der Verzweiflung“ von Owen Chase

Jetzt ist es da, das Buch, das Herman Melvilles „Moby Dick“ inspirierte.

Die Lektüre dieser ungeheuren Geschichte hatte eine verblüffende Wirkung auf mich.“

Herman Melville

Owen Chase, Tage des Grauens und der Verzweiflung, CoverDie Männer vom Walfänger „Essex“ trauen ihren Augen nicht, und sie sind derart ungläubig, dass sie die Gefahr erst im letzten Moment begreifen. Mitten in der Waljagd sehen sie sich dem Ansturm eines gewaltigen Tieres ausgesetzt, das – dergleichen hat es zuvor nie gegeben, zumindest hat nie ein Walfänger Vergleichbares berichten können – den Spieß herumdreht. Statt eilends den Harpunen der Walfangboote davonzuschwimmen, wendet sich der Wal mehrmals bewusst dem Hauptschiff zu und rammt frontal dessen Bug. Ein gewaltiges Leck im Schiffsrumpf ist die Folge. Keine Rettung für das Schiff – tausend Meilen vom nächstgelegenen Land entfernt, und die »Essex« sinkt.

Owen Chase, Erster Steuermann, gehörte zu den wenigen Überlebenden dieser Katastrophe. Sein Buch darüber ist ein packender, authentischer Abenteuerbericht. Herman Melville, dessen Geburtstag sich am 1. August zum 200. Mal jährt, war von der Lektüre derart fasziniert, dass sie ihn nicht mehr losließ. Chases Buch hat ihn entscheidend zu seinem unvergänglichen Klassiker »Moby Dick« inspiriert. Es erscheint hier erstmals ungekürzt auf Deutsch und um weitere Berichte und Dokumente in deutscher Erstübersetzung ergänzt. Auch eine zweite, kürzere Inspirationsquelle Melvilles, die Erzählung „Mocha Dick“ von Jeremiah Reynolds, wurde in diesen Band mit aufgenommen.

Die historischen Ereignisse waren die Vorlage für die Filme „Im Herzen der See“ (2015) mit Chris Hemsworth und Cillian Murphy und „Der Wal“ (2013) mit Martin Sheen. Warum es historisch tatsächlich aber anders – und spannender – war, als diese Filme zeigen, lässt sich in der Lektüre dieses Buches nachvollziehen.

Owen Chase (1796-1869) wurde in Nantucket geboren und fuhr bereits früh zur See. Nach der „Essex“-Katastrophe wurde er einer der erfolgreichsten Walfänger-Kapitäne der Geschichte. Angesichts der schriftstellerischen Qualität seines Berichts erhob sich die Frage, ob er selbst oder ein Ghostwriter das Manuskript formuliert habe. Herman Melville schrieb dazu: „Es gibt offensichtliche Anzeichen, dass es für ihn geschrieben wurde, und doch erweist die ganze Art des Buchs, dass es sorgsam nach seinem Diktat der Fakten geschrieben wurde – es ist beinahe dasselbe, als hätte er es selbst verfasst.“

Eine Zeitschrift als Jungbrunnen – 10 Jahre »kult!«

kult! 2-2o19

Überall schießen sie wie Pilze aus dem Boden: die Rückblicke auf gute, vergangene Zeiten, auf die 60er, 70er und 80er Jahre, die den einen weit genug entfernt liegen, um schon etwas Historisches zu haben, und den anderen nah genug, um nostalgisch süß die Welt von halbgestern greifbar zu halten. Jahreschroniken, Erinnerungssendungen und hitparadenartig gestaltete Rückblicke gibt es medial mittlerweile reichlich. Die Zeitschrift »Kult!«, ein Vorreiter des Trends, war freilich schon zur Stelle, als all das noch in den Kinderschuhen steckte.

»Nostalgie ist kollektiv und individuell zugleich«, schreibt Nicolas von Lettow-Vorbeck in einem exzellenten Artikel, der die zahlreichen Aspekte des Nostalgie-Gefühls beschreibt (in der »Kult!«-Ausgabe 2/2017). »Nostalgie bringt die Menschen zusammen, schafft Gemeinsamkeit, liefert spannende Gesprächsthemen und definiert Generationen. Ein Heft wie kult! beweist eindrucksvoll, dass man mit sehr persönlichen, nostalgischen Erinnerungen Abertausende von Menschen begeistern und zusammenbringen kann. Nostalgie passt in keine Schublade. Nostalgie ist ein wichtiger Teil unseres menschlichen Wesens.«

kult 2-2o19 Beispiel Innenseiten

Elegante Fülle: das kult!-Layout

Die neueste Ausgabe ist Ende April erschienen, und sie macht das zehnjährige Bestehen der Zeitschrift voll. Und wie immer sehen wir uns darin einem Füllhorn an Themen und Motiven gegenüber. In Kürze jährt sich die erste Mondlandung zum 50. Mal, und »Kult!« blickt darauf zurück (mit Äußerung erheblicher Zweifel an ihrer Echtheit) und präsentiert die Folgen der Mondfahrt auf die Werbung – zum Beispiel wurden Putzmittel »raketenschnell« und die Post kreierte ein »Astronauten-Sparbuch« (mit astronomisch hohen Zinsen? – nein, das klingt nicht glaubhaft). Weil es hoch hinaus ins All geht, schließen sich Science-Fiction-Themen an, mit dem Teleskop werden die Bücher von H. G. Wells, einem Pionier des Genres, das »Perry-Rhodan«-Universum sowie Alex Raymonds Comic-Klassiker »Flash Gordon« ausgekundschaftet. Ansonsten überwiegt das Irdische: Britische Krimiserien wie »Department S«, »Die 2« oder »Die Profis« werden erkundet, gleich mehrmals geht es um die Tradition der Adventsvierteiler, gerne blättern die Autoren alte Zeitschriften wie das einstig »vernünftigste Magazin der Welt MAD«, das Männermagazin »Gondel« oder die Comic-Reihe »Fix und Foxi Super«. Und für Autoliebhaber gibt es ein Porträt des Mercedes 111. Eine Zeitmaschine ist noch nicht erfunden worden, aber »Kult!« kommt dem schon erfreulich nahe.

»Kult!« ist ein perfekter Steigbügel für Erinnerungen. Ständig lösen die Texte und Bilder Assoziationen aus, mit jeder neuen Ausgabe kommt unversehens ein Stück eigenes Leben zurück. Als Junge habe ich ein Western-Spielzeug namens »Fort Laramie« besessen; es ist natürlich längst verschollen und ich hatte es komplett vergessen – bis ich es in einem »kult!«-Artikel über Spielzeug von damals abgebildet fand und mich vergnügt an Spielnachmittage erinnerte, in denen es zwischen Cowboys und Indianern hoch her ging. Und mit dieser Erinnerung verbunden waren assoziativ weitere, so dass ein ganzes Mosaikstück aus dem eigenen Leben ins Bewusstsein zurückkehrte. Auf diese Weise frischt »kult!« die kollektive und die individuelle Erinnerung auf, und vieles, was in der Rückschau schwammig oder fraglich wurde oder gar ganz verlustig ging, bekommt wieder feste Konturen.

Übrigens bringt »Kult!« auch eine Verhaltensweise zurück, die beim Erwachsenwerden verloren gegangen schien. Ich erinnere mich gut, wie ich mich als Junge auf das Erscheinen bestimmter Zeitschriften gefreut habe. Als Grundschüler hat mich der Weg freitags nach dem letzten Klingeln schnurstracks zum nahegelegenen Kiosk geführt, wo das neue »Fix und Foxi« auf mich wartete, das ich wegen der Abenteuer von Helden wie Prinz Edelhart, Pit und Pikkolo, Lucky Luke oder Jo-Jo liebte. Später geschah das mit »ZACK«. Und wenn es auf Mitte November zuging, galt das Fieber dem Erscheinen der neuen Fernsehzeitschrift, stets in der Hoffnung, in der kleinen »Vorschau auf nächste Woche« vorab den Titel des nächsten großen Adventsvierteilers zu lesen, der damals eine feste Institution im Programm war. »Kult!« bringt mir diese Vorfreude zurück. Ich freue mich auf jedes neue Heft, habe den Erscheinungstermin im Kopf, und ist die aktuelle Ausgabe ausgelesen, freue ich mich bereits auf die nächste. Und um es leicht paradox zu sagen: Obwohl »kult!« ja von der Vergangenheit berichtet, fühle ich mich beim Lesen immer erfrischend verjüngt.

Seit 2016 gibt es von »Kult!« auch schon eine Ergänzung, die »Kult-Edition«, die jeweils Artikel zu einem einzelnen Thema bündelt. Bisher erschienen sind Ausgaben über Krimi- bzw. Westernserien im deutschen Fernsehen, über Autos und Autogeschichten (inklusive Themen wie Autoquartetts, Mondauto oder Filmautos) und über Fußballer der 60er bis 80er Jahre.

Nomen est omen: Die Zeitschrift »Kult!« ist auf dem besten Wege, selbst dazu zu werden. 106 Seiten kosten 6.50 Euro, und wer klug genug war, mit dem Sammeln des Hefts bereits mit der ersten Ausgabe zu beginnen (oder zeitig nachgeordert hat), besitzt inzwischen einen über 2.000 Seiten dicken, Doppelziegelstein-schweren Überblick über all die Dinge, die uns in den 60er, 70er und 80er Jahren das Leben versüßt haben und oft bis heute versüßen. »Kult!« ist ein fortgeschriebenes Erinnerungswerk, und es geht weiter.

MICHAEL KLEIN

Jiro Taniguchi – Die Stadt und das Mädchen

Aus der Reihe: Comic-Klassiker & Klasse-Comics

Jiro Taniguchi: Die Stadt und das Mädchen

Shodoku, Paperback

Der Bergsteiger Takeshi Shiga bewirtschaftet eine Berghütte am Kai-Komagataki, als ihn ein Hilferuf aus Tokio erreicht. Yoriko Sakamoto, die Frau seines besten Freundes, der vor zwölf Jahren beim Bergsteigen in Nepal gestorben ist, ist in starker Sorge um ihre Tochter Megumi, die seit Tagen nicht nachhause gekommen ist. Shiga erinnert sich: »Ich vertraue dir Yoriko und Megumi an«, waren die letzten Worte, die sein Freund auf einen Zettel gekritzelt hatte, bevor er in Nepal erfror.

Jiro Taniguchi, Die Stadt und das Mädchen, CoverShiga bricht sofort nach Tokio auf und beginnt seine Nachforschungen. Während für die Polizei der Fall des verschwundenen Mädchens von keinem sonderlichen Interesse zu sein scheint, gewinnt Shiga das Vertrauen eines jungen Straßenstreuners und des zunächst abgebrüht-abweisenden Mädchens Maki Ohara, das Megumi zuletzt gesehen hat.

Die Beobachtungen der beiden geben Shiga die ersten wichtigen Hinweise, was es mit Megumis Verschwinden auf sich haben könnte. Und dann geht es in gefährliche Höhe – in gesellschaftlicher wie in physikalischer Hinsicht. Gut, dass Shiga ein Bergsteiger ist, der auch das scheinbar Unmögliche nicht scheut.

Der Manga-Autor und -Zeichner Jiro Taniguchi – ein Meister seines Fachs, dessen im Original 1997 erschienenes Werk »Vertraute Fremde« auch bei uns zurecht und vielgerühmt als moderner Klassiker des Manga angesehen wird – verbindet in »Die Stadt und das Mädchen« seine bezwingende, hochspannende Handlungsführung in bester Hollywood-Dramaturgie mit einem atmosphärisch dichten Beziehungsgeflecht zwischen den Figuren und einem kritischen Porträt der wimmelnden Metropole Tokio, in der Anonymität, die Entfernung von den wirklichen Lebenswerten und ein Zerfall des inneren gesellschaftlichen Zusammenhalts herrschen.

»Die Stadt und das Mädchen« ist ein exzellenter Manga-Thriller mit Anspruch, den man bis zur letzten Seite nicht aus den Händen legen kann.

MICHAEL KLEIN

Leo Tolstoj – Auferstehung

Aus der Reihe: Bücher, die sich wirklich lohnen

Leo Tolstoj: Auferstehung

Diverse Ausgaben

Es ist ein Roman von einer Klasse, die eine Kategorie für sich ist, und der Titel der Blog-Rubrik »Bücher, die sich wirklich lohnen« kann gar nicht angebrachter sein.

Leo Tolstoj, Auferstehung, CoverMoskau, Ende der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts. Der in seiner Jugend hochidealistische, durch gesellschaftliche Einflüsse, vornehmlich während seiner Militärzeit, moralisch etwas heruntergekommene Fürst Nechljudow wird als Geschworener zu Gericht berufen und erkennt allmählich in einer des Raubmordes angeklagten Edelprostituierten seine einstige Jugendliebe Katjuscha wieder. Jäh und nagend geht ihm während des Prozesses auf, dass sein eigenes zweifelhaftes Verhalten ihr gegenüber einst ihre tragische Lebensbahn zu einem gerüttelt Maß verursacht hat. Er hatte ihre aufrichtige, unschuldige Liebe ausgenutzt, sich brüsk – nicht zuletzt den Rangunterschied hervorkehrend – aus dem Staub gemacht und sie mit der sich herausstellenden Schwangerschaft alleingelassen.

Der Verlauf des Prozesses, der durch einen Lapsus der Geschworenen – sie halten die Angeklagte für unschuldig, begehen aber einen schwerwiegenden Formfehler – auf eine Verurteilung zu schwerer Zwangsarbeit hinausläuft (und Nechljudows Schuld damit verdoppelt), wird für den Fürsten zum Beginn eines sittlichen Erneuerungsprozesses.

Im Licht der individuellen Krise sieht er zudem die Gesellschaft als Ganzes in ungewohnter, scharfer Beleuchtung und erkennt deren ungerechte und unsolidarische Einrichtung. Weil Nechljudow begreift, dass seine Schuld größer ist als die Katjuschas und das Urteil eigentlich ihm selbst gelten sollte, folgt er ihr und teilt ihren Leidensweg nach Sibirien.

Dass Tolstoj in seinen Schilderungen hin und wieder zu einer zu deutlichen Schwarz-Weiß-Gegenüberstellung greift und manche konkrete politische Überlegung durchaus streitbar und in der einfältig anmutenden Überzeugung von der Wunderkraft des Neuen Testaments fragwürdig bleibt, mindert die grundsätzliche Kraft und Bedeutung dieses Werks nicht im mindesten. Es ist gerade die rigorose moralische Dimension in ihrem beharrlichen Insistieren, die diesem souverän komponierten, packenden Roman seine durchdringend-nachhaltige Konsequenz gibt.

Schön, handlich und gut übersetzt ist die hier abgebildete Insel-Taschenbuchausgabe mit Illustrationen von Theodor Eberle. Der Stoff wurde mehrfach verfilmt, sehr zu empfehlen ist die große, zweiteilige Version von Paolo und Vittorio Taviani aus dem Jahr 2001.

MICHAEL KLEIN

Emmanuel Guibert – Martha & Alan

Aus der Reihe: Comic-Klassiker & Klasse-Comics

Emmanuel Guibert: Martha & Alan

Edition Moderne, gebunden

Emmanuel Guibert: Martha & Alan

Martha und Alan: Heimweg nach der Schule im Sonnenlicht
(mit freundlicher Genehmigung der Edition Moderne)

Zu Beginn dieses Monats wurde an dieser Stelle die furios gelungene Graphic Novel »Alans Kindheit« vorgestellt, die der französische Comic-Zeichner Emmanuel Guibert auf der Basis von mündlichen, sehr lebendigen Erzählungen eines in Frankreich lebenden Amerikaners namens Alan Cope geschaffen hat. Es werde ein Nachtrag dazu folgen, hieß es im Blogbeitrag, und diesmal beschäftigen wir uns mit einem weiteren Kapitel aus Alans Kindheit, das darin eine Geschichte für sich darstellt und deshalb einen eigenen Band füllt. Es ist bereits der dritte Teil der Zusammenarbeit von Guibert und Cope.

Martha & Alan“ erzählt die Geschichte einer Kinderfreundschaft, vielleicht eine Art Kinderromanze, mit all dem Unschuldigen, Ungeformten, Unwissenden, aber auch mit dem vermeintlich Selbstverständlichen, das oft im Kindsein liegt. Die beiden lernen sich in der Schule kennen, als sie fünf Jahre alt sind. Sie verbringen beinahe unzertrennlich ihre Kindheit im Kalifornien der späten 30er und frühen 40er Jahre miteinander. Wenn sie nach der Schule zusammen sind, klettern sie auf Bäume, erfreuen sich an der Schaukel im Garten von Marthas Eltern, ersinnen sich Spiele und singen gemeinsam im Kirchenchor. Cope erzählt von der Alltagswelt der beiden einfach, undramatisch und lebenswahr – und derart plastisch und poetisch, dass es fesselnd ist.

Emmanuel Guiberts hinreißende Zeichnungen nehmen im Strich den Illustrationsstil und in der Farbgebung die Filmfarben jener Zeit auf. Sie sind durchweg großformatig gehalten und strahlen in satter Technicolor-Anmutung. Fast durchweg wird jede Doppelseite von einem einzigen Bild gefüllt. Eine schnell zu lesende Graphic Novel ist „Martha & Alan“ dennoch nicht. Der Leser würde sich seines Vergnügens berauben, wenn er nicht beim Betrachten länger verweilte und sich von den dichten Atmosphären gefangen nehmen ließe. Die Komposition der Erzählung ist stimmig und durchdacht, die Details sind prächtig und präzise recherchiert in Szene gesetzt. Alles wird zugleich auf seinen einfachsten wie schönsten Punkt gebracht.

Alan Cope ist um die siebzig Jahre, als er Guibert von Martha im Rückblick nach vielen Jahrzehnten erzählt, und wir erfahren als Leser auch die Nachgeschichte der beiden. Doch kein Wort darüber. „Martha & Alan“ ist zauberhaft, und der Leser sollte sich dieser Graphic Novel ohne Vorwissen nähern.

Eingeleitet wird sie durch ein großes historisches Foto, ein Gruppenbild des Kirchenchors, in dem Martha und Alan als Kinder Mitglied waren. Man sieht eine Vielzahl Jungs und Mädchen in weißen Roben und mit Kerzen in der Hand. Wer von ihnen mag Alan, welches Mädchen mag Martha sein? Dass Cope und Guibert es nicht verraten und dass wir es nicht herausfinden können, gehört mit zur Aussage der Geschichte.

MICHAEL KLEIN

Arthur Schnitzler, Max Ophüls – Berta Garlan

Aus der Reihe: Ich höre Stimmen!

Arthur Schnitzler, Max Ophüls: Berta Garlan

Der Hörverlag, 2 CDs

Ich höre Stimmen! Und zwar gleich mehrere. Denn diesmal geht es um einen kurzen Fingerzeig auf einen hochlohnenswerten Hörspielklassiker:

Arthur Schnitzler, Berta Garlan, Hörbuch-Cover

Max Ophüls inszeniert Arthur Schnitzler

Zu den Stoffen, die der Filmregisseur Max Ophüls (1902-1957, u. a. »Brief einer Unbekannten«, 1948, »Der Reigen«, 1950, »Madame de…«, 1953, »Lola Montez«, 1955) liebend gerne noch als Film realisiert hätte, gehörte Arthur Schnitzlers (1862-1931) »Berta Garlan«. Es wäre, nach »Liebelei« (1933) und dem schon erwähnten »Reigen«, seine dritte Schnitzler-Verfilmung gewesen. Doch sie sollte ihm verwehrt bleiben.

Immerhin: für den Südwestfunk konnte er 1956 eine Hörspieladaption schreiben und inszenieren, und gemessen an ihr hätte ein vergleichbarer Film eines von Ophüls’ Meisterwerken werden müssen. Das sieht der Regisseur Dominik Graf ebenfalls so, der für das Booklet des Hörbuchs einen Essay über Schnitzler, Ophüls und das Hörspiel beigesteuert hat: »Man kann sich vorstellen, dass Berta Garlan vielleicht sogar der schönste der Schnitzlerfilme von Ophüls geworden wäre, wenn man das Hörspiel als Entwurf dafür nimmt.«

Berta Garlan ist eine junge Witwe aus Linz, deren farbloses Leben sich glühender Sehnsüchte erinnert, als sie liest, dass ihre Jugendliebe, mittlerweile ein gefeierter Musiker, in Wien gastiert. Mit Jungmädchenhoffnungen – von den kleinen Enttäuschungen des Lebens umzingelt, von den großen aber noch nicht eingefangen – macht sie sich auf den Weg zu einem Wiedersehen, das sie aus allen kurzen Wolken stößt.

Ein traumverloren-melancholisch-verwehtes Hörstück hat Max Ophüls daraus gemacht, mit kongenialer Unterstützung eines brillanten Sprechertrios. Gert Westphal, Käthe Gold und Bernhard Wicki glänzen in diesem Klassiker des Hörspiels nach einem Klassiker der modernen Literatur. Für alle Literatur-, Hörspiel- und Max-Ophüls-Freunde zweieinhalb Stunden Hörgenuss!

Und in diesem Zusammenhang ein aktueller TV-Tipp: Am Montag (11.3.) gibt es Max Ophüls’ Film »Madame de…« um 20.15 Uhr bei Arte zu sehen.

MICHAEL KLEIN

Emmanuel Guibert – Alans Kindheit

Aus der Reihe: Comic-Klassiker & Klasse-Comics

Emmanuel Guibert: Alans Kindheit

Edition Moderne, gebunden

Es gibt viele verschiedene Möglichkeiten, wie es zur Entstehung eines Buches kommt, aber eher ungewöhnlich ist, wenn der Beginn in einer simplen Frage nach dem Weg besteht. Der französische Comic-Zeichner Emmanuel Guibert (»Der Fotograf«, »Ariol«) hatte sich auf der Ile de Ré an der französischen Atlantikküste verlaufen und fragte einen Einheimischen, wie er zurück finde. Daraus ergab sich ein Gespräch, aus dem Gespräch ergab sich ein weiteres Treffen, aus dem weiteren Treffen ergaben sich immer neue und schließlich die Idee zu einem gemeinsamen Projekt.

Emmanuel Guibert, Alans Kindheit, CoverDer Einheimische war im Grunde nur ein halber Einheimischer, denn er war Amerikaner, mit Namen Alan Cope, damals 69 Jahre alt. Guibert mochte von Beginn an Copes lebendige Erzählweise, und die nahe liegenden Erkundigungsfragen – warum verbringt ein Amerikaner seinen Lebensabend an der französischen Atlantikküste? – führten Cope rasch zu Erinnerungen aus seiner Lebensgeschichte. Guibert war fasziniert, von Copes einfacher, aber präziser Art ebenso wie von der Fülle der Erinnerungen, die sich lebensnah und spannend vor seinen Augen entfalteten. Guibert war schließlich derart gepackt, dass er Copes Talent und sein eigenes zusammenführen wollte: in einer Graphic Novel, die Copes Erzählton beibehalten und durch seine, Guiberts, Zeichnungen ergänzen sollte.

Um es gleich zu sagen: Es war eine hervorragende Idee, die Kombination furios gelungen. Text und Bilder gehen eine Einheit ein, die künstlerisch voller Bescheidenheit ist – d.h. ohne jedes Blendwerk, ohne Getue, ohne falsche Gefühle oder behauptete Dramen – und in ihrer Wahrheit und unprätentiösen Schönheit berührend und überzeugend. Insgesamt drei Graphic-Novel-Bände sind auf diese Weise entstanden, »Alans Kindheit« ist nach »Alans Krieg« der zweite von ihnen.

Cope, 1925 geboren, wuchs in den 30er Jahren in Kalifornien auf, und er erzählt von den Dingen, die seine Kindheit ausmachten, von den Kleinstädten mit ihren Holzhäuserreihen, von den Ausflügen nach Long Beach an endlosen Landschaften aus Ölbohrtürmen vorbei, von den Pfefferbäumen mit ihren langen Ästen, die Trauerweiden-artig bis zum Boden hängen und die man ohne Schwierigkeiten zu Schaukeln verknoten kann. Er erzählt von Familientreffen, bei denen es Leckereien gibt und bei denen man als Kind mysteriöse, unvollständige Einblicke in die Lebensgeschichten der anderen mit ihren freudigen oder dunklen Seiten bekommt, von Freuden und Tragödien des Alltags, von Spielen und dem Hauch erster Romanzen.

Meistenteils berichtet Alan Cope nichts Spektakuläres, sondern Alltagsgeschichten – und man folgt ihm gebannt. Die Erzählweise ist einerseits schlicht, andererseits voller überraschender, atmosphärisch dichter Einzelheiten. Und nah am Leben. Guibert hat fabelhaft recherchiert, er muss endlos historische Fotos aus dem Kalifornien der Zeit studiert haben, um Copes Erzählungen derart brillant und detailreich in begnadet ausdrucksstarke, realistische SW-Zeichnungen umsetzen zu können. Da überzeugt jeder Strich.

(Kleiner Vorausblick: In Kürze gibt es an dieser Stelle noch einen Guibert-Alan-Nachtrag.)

MICHAEL KLEIN

Hans Christian Andersen – Nur ein Spielmann

Aus der Reihe: Bücher, die sich wirklich lohnen

Hans Christian Andersen: Nur ein Spielmann

S. Fischer Verlag, gebunden

Hans-Christian Andersen, Nur ein SpielmannHans Christian Andersen (1805-1875) ist zwar mit seinen Märchen nachhaltig berühmt geworden – die beliebte Vokabel »unsterblich« bietet sich trotz nicht von der Hand zu weisender Ungenauigkeit an -, er selbst aber hatte stets gehofft, etwas – vermeintlich – viel Größeres, Bedeutenderes zu schaffen: im Roman oder für das Theater. Das sollte nicht unter den Tisch fallen. Und Andersens dritter, 1837 erschienener Roman »Nur ein Spielmann«, der im selben Jahr ins Deutsche übersetzt wurde und ihn hierzulande noch vor seinen Märchen weithin bekannt machte, liest sich verblüffend angenehm und ist voller Schönheiten, die wir auch an seinen Märchen lieben.

Es ist ein Liebesroman, der sich als konsequenter Nicht-Liebesroman entpuppt. Die Hauptfigur Christian ist ein physisch fragiler, mit einer überstarken, lebhaften Phantasie ausgestatteter junger Mann aus dem dänischen Svendborg, der hochbegabt das Geigenspiel erlernt und zum Künstler wie geboren zu sein scheint. In seiner unmittelbaren Nachbarschaft, freilich aus weitaus wohlhabenderer, höher gestellter Familie, wohnt die ein Jahr jüngere Naomi, deren Zauber Christian schon bei ihrer ersten Begegnung verfällt. Naomi ist anziehend, selbstbewusst, attraktiv, dominant, für Christian ein Wesen wie aus einer unbekannten, berauschenden Feenwelt. Er ist tief beeindruckt, und Naomi wird ihm fortan zum unauslöschlichen Liebesideal – der schwärmerischen Begeisterung Don Quijotes für seine Dulcinea nicht ganz unähnlich.

Denn Christians dauerhafte Liebe ist eine fixe Idee, nicht realitätsbezogen. Naomi – ungefordert von ihrem Schicksal, von ihrem Wohlstand gelangweilt – bleibt ein oberflächliches, nicht sehr mitfühlendes Ding, das mit Christians romantischen Träumereien ebenso wenig anfangen könnte wie er mit ihrem ungesättigten und deshalb ziemlich wahllosem Lebenshunger.

Hans Christian Andersen

Hans Christian Andersen, Gemälde von Christian Albrecht Jensen (1792–1870)

Andersen erzählt von Christians einseitiger, schwärmerischer Liebe, von seinem Verkanntwerden als Musiker und von Naomis wilden, orientierungslosen Streifzügen in die weite Welt: Es ist eine Chronik des logischen, beständigen Verfehlens, die in der zweiten Hälfte mit immer klüger ausgespielter Ironie ausgebreitet wird.

Und weil Andersen spannungssichernde Kunstgriffe nicht verschmäht, gar mit düsterem Suspense überrascht und die realistischen Schilderungen um geschickt eingewebte, lebendige Märchen- und Sagenmotive zu ergänzen weiß, folgt ihm der Leser bereitwillig und zeitweise gar mit äußerster Neugier.

Die Welt in Andersens Roman ist übrigens bereits erstaunlich klein. Fern ist 1837 noch die Großkonjunktur des Begriffs Globalisierung, und doch trifft sich die überschaubar kleine Gruppe handelnder Personen in immer wechselnder Konstellation ganz und gar zufällig mal in Wien oder Italien oder Paris wieder, als läge es entlang des Wanderwegs rund um Svendborg. Was nichts daran ändert, dass »Nur ein Spielmann« nicht zuletzt neugierig auf die anderen Romane Andersens machen darf, fünf weitere hat er geschrieben.

MICHAEL KLEIN