Arthur Schnitzler, Max Ophüls – Berta Garlan

Aus der Reihe: Ich höre Stimmen!

Arthur Schnitzler, Max Ophüls: Berta Garlan

Der Hörverlag, 2 CDs

Ich höre Stimmen! Und zwar gleich mehrere. Denn diesmal geht es um einen kurzen Fingerzeig auf einen hochlohnenswerten Hörspielklassiker:

Arthur Schnitzler, Berta Garlan, Hörbuch-Cover

Max Ophüls inszeniert Arthur Schnitzler

Zu den Stoffen, die der Filmregisseur Max Ophüls (1902-1957, u. a. »Brief einer Unbekannten«, 1948, »Der Reigen«, 1950, »Madame de…«, 1953, »Lola Montez«, 1955) liebend gerne noch als Film realisiert hätte, gehörte Arthur Schnitzlers (1862-1931) »Berta Garlan«. Es wäre, nach »Liebelei« (1933) und dem schon erwähnten »Reigen«, seine dritte Schnitzler-Verfilmung gewesen. Doch sie sollte ihm verwehrt bleiben.

Immerhin: für den Südwestfunk konnte er 1956 eine Hörspieladaption schreiben und inszenieren, und gemessen an ihr hätte ein vergleichbarer Film eines von Ophüls’ Meisterwerken werden müssen. Das sieht der Regisseur Dominik Graf ebenfalls so, der für das Booklet des Hörbuchs einen Essay über Schnitzler, Ophüls und das Hörspiel beigesteuert hat: »Man kann sich vorstellen, dass Berta Garlan vielleicht sogar der schönste der Schnitzlerfilme von Ophüls geworden wäre, wenn man das Hörspiel als Entwurf dafür nimmt.«

Berta Garlan ist eine junge Witwe aus Linz, deren farbloses Leben sich glühender Sehnsüchte erinnert, als sie liest, dass ihre Jugendliebe, mittlerweile ein gefeierter Musiker, in Wien gastiert. Mit Jungmädchenhoffnungen – von den kleinen Enttäuschungen des Lebens umzingelt, von den großen aber noch nicht eingefangen – macht sie sich auf den Weg zu einem Wiedersehen, das sie aus allen kurzen Wolken stößt.

Ein traumverloren-melancholisch-verwehtes Hörstück hat Max Ophüls daraus gemacht, mit kongenialer Unterstützung eines brillanten Sprechertrios. Gert Westphal, Käthe Gold und Bernhard Wicki glänzen in diesem Klassiker des Hörspiels nach einem Klassiker der modernen Literatur. Für alle Literatur-, Hörspiel- und Max-Ophüls-Freunde zweieinhalb Stunden Hörgenuss!

Und in diesem Zusammenhang ein aktueller TV-Tipp: Am Montag (11.3.) gibt es Max Ophüls’ Film »Madame de…« um 20.15 Uhr bei Arte zu sehen.

MICHAEL KLEIN

Emmanuel Guibert – Alans Kindheit

Aus der Reihe: Comic-Klassiker & Klasse-Comics

Emmanuel Guibert: Alans Kindheit

Edition Moderne, gebunden

Es gibt viele verschiedene Möglichkeiten, wie es zur Entstehung eines Buches kommt, aber eher ungewöhnlich ist, wenn der Beginn in einer simplen Frage nach dem Weg besteht. Der französische Comic-Zeichner Emmanuel Guibert (»Der Fotograf«, »Ariol«) hatte sich auf der Ile de Ré an der französischen Atlantikküste verlaufen und fragte einen Einheimischen, wie er zurück finde. Daraus ergab sich ein Gespräch, aus dem Gespräch ergab sich ein weiteres Treffen, aus dem weiteren Treffen ergaben sich immer neue und schließlich die Idee zu einem gemeinsamen Projekt.

Emmanuel Guibert, Alans Kindheit, CoverDer Einheimische war im Grunde nur ein halber Einheimischer, denn er war Amerikaner, mit Namen Alan Cope, damals 69 Jahre alt. Guibert mochte von Beginn an Copes lebendige Erzählweise, und die nahe liegenden Erkundigungsfragen – warum verbringt ein Amerikaner seinen Lebensabend an der französischen Atlantikküste? – führten Cope rasch zu Erinnerungen aus seiner Lebensgeschichte. Guibert war fasziniert, von Copes einfacher, aber präziser Art ebenso wie von der Fülle der Erinnerungen, die sich lebensnah und spannend vor seinen Augen entfalteten. Guibert war schließlich derart gepackt, dass er Copes Talent und sein eigenes zusammenführen wollte: in einer Graphic Novel, die Copes Erzählton beibehalten und durch seine, Guiberts, Zeichnungen ergänzen sollte.

Um es gleich zu sagen: Es war eine hervorragende Idee, die Kombination furios gelungen. Text und Bilder gehen eine Einheit ein, die künstlerisch voller Bescheidenheit ist – d.h. ohne jedes Blendwerk, ohne Getue, ohne falsche Gefühle oder behauptete Dramen – und in ihrer Wahrheit und unprätentiösen Schönheit berührend und überzeugend. Insgesamt drei Graphic-Novel-Bände sind auf diese Weise entstanden, »Alans Kindheit« ist nach »Alans Krieg« der zweite von ihnen.

Cope, 1925 geboren, wuchs in den 30er Jahren in Kalifornien auf, und er erzählt von den Dingen, die seine Kindheit ausmachten, von den Kleinstädten mit ihren Holzhäuserreihen, von den Ausflügen nach Long Beach an endlosen Landschaften aus Ölbohrtürmen vorbei, von den Pfefferbäumen mit ihren langen Ästen, die Trauerweiden-artig bis zum Boden hängen und die man ohne Schwierigkeiten zu Schaukeln verknoten kann. Er erzählt von Familientreffen, bei denen es Leckereien gibt und bei denen man als Kind mysteriöse, unvollständige Einblicke in die Lebensgeschichten der anderen mit ihren freudigen oder dunklen Seiten bekommt, von Freuden und Tragödien des Alltags, von Spielen und dem Hauch erster Romanzen.

Meistenteils berichtet Alan Cope nichts Spektakuläres, sondern Alltagsgeschichten – und man folgt ihm gebannt. Die Erzählweise ist einerseits schlicht, andererseits voller überraschender, atmosphärisch dichter Einzelheiten. Und nah am Leben. Guibert hat fabelhaft recherchiert, er muss endlos historische Fotos aus dem Kalifornien der Zeit studiert haben, um Copes Erzählungen derart brillant und detailreich in begnadet ausdrucksstarke, realistische SW-Zeichnungen umsetzen zu können. Da überzeugt jeder Strich.

(Kleiner Vorausblick: In Kürze gibt es an dieser Stelle noch einen Guibert-Alan-Nachtrag.)

MICHAEL KLEIN

Hans Christian Andersen – Nur ein Spielmann

Aus der Reihe: Bücher, die sich wirklich lohnen

Hans Christian Andersen: Nur ein Spielmann

S. Fischer Verlag, gebunden

Hans-Christian Andersen, Nur ein SpielmannHans Christian Andersen (1805-1875) ist zwar mit seinen Märchen nachhaltig berühmt geworden – die beliebte Vokabel »unsterblich« bietet sich trotz nicht von der Hand zu weisender Ungenauigkeit an -, er selbst aber hatte stets gehofft, etwas – vermeintlich – viel Größeres, Bedeutenderes zu schaffen: im Roman oder für das Theater. Das sollte nicht unter den Tisch fallen. Und Andersens dritter, 1837 erschienener Roman »Nur ein Spielmann«, der im selben Jahr ins Deutsche übersetzt wurde und ihn hierzulande noch vor seinen Märchen weithin bekannt machte, liest sich verblüffend angenehm und ist voller Schönheiten, die wir auch an seinen Märchen lieben.

Es ist ein Liebesroman, der sich als konsequenter Nicht-Liebesroman entpuppt. Die Hauptfigur Christian ist ein physisch fragiler, mit einer überstarken, lebhaften Phantasie ausgestatteter junger Mann aus dem dänischen Svendborg, der hochbegabt das Geigenspiel erlernt und zum Künstler wie geboren zu sein scheint. In seiner unmittelbaren Nachbarschaft, freilich aus weitaus wohlhabenderer, höher gestellter Familie, wohnt die ein Jahr jüngere Naomi, deren Zauber Christian schon bei ihrer ersten Begegnung verfällt. Naomi ist anziehend, selbstbewusst, attraktiv, dominant, für Christian ein Wesen wie aus einer unbekannten, berauschenden Feenwelt. Er ist tief beeindruckt, und Naomi wird ihm fortan zum unauslöschlichen Liebesideal – der schwärmerischen Begeisterung Don Quijotes für seine Dulcinea nicht ganz unähnlich.

Denn Christians dauerhafte Liebe ist eine fixe Idee, nicht realitätsbezogen. Naomi – ungefordert von ihrem Schicksal, von ihrem Wohlstand gelangweilt – bleibt ein oberflächliches, nicht sehr mitfühlendes Ding, das mit Christians romantischen Träumereien ebenso wenig anfangen könnte wie er mit ihrem ungesättigten und deshalb ziemlich wahllosem Lebenshunger.

Hans Christian Andersen

Hans Christian Andersen, Gemälde von Christian Albrecht Jensen (1792–1870)

Andersen erzählt von Christians einseitiger, schwärmerischer Liebe, von seinem Verkanntwerden als Musiker und von Naomis wilden, orientierungslosen Streifzügen in die weite Welt: Es ist eine Chronik des logischen, beständigen Verfehlens, die in der zweiten Hälfte mit immer klüger ausgespielter Ironie ausgebreitet wird.

Und weil Andersen spannungssichernde Kunstgriffe nicht verschmäht, gar mit düsterem Suspense überrascht und die realistischen Schilderungen um geschickt eingewebte, lebendige Märchen- und Sagenmotive zu ergänzen weiß, folgt ihm der Leser bereitwillig und zeitweise gar mit äußerster Neugier.

Die Welt in Andersens Roman ist übrigens bereits erstaunlich klein. Fern ist 1837 noch die Großkonjunktur des Begriffs Globalisierung, und doch trifft sich die überschaubar kleine Gruppe handelnder Personen in immer wechselnder Konstellation ganz und gar zufällig mal in Wien oder Italien oder Paris wieder, als läge es entlang des Wanderwegs rund um Svendborg. Was nichts daran ändert, dass »Nur ein Spielmann« nicht zuletzt neugierig auf die anderen Romane Andersens machen darf, fünf weitere hat er geschrieben.

MICHAEL KLEIN

Owen Chase und das historische Vorbild für Herman Melvilles „Moby Dick“

Kommende Ereignisse werfen ihre Cover voraus

Owen Chase, Tage des Grauens und der Verzweiflung, Cover

Die Lektüre dieser ungeheuren Geschichte hatte eine verblüffende Wirkung auf mich“, schrieb ein faszinierter Herman Melville, und er sprach von Owen Chases authentischem Abenteuerbericht, der Melville zum Vorbild für seinen klassisch gewordenen Roman „Moby Dick“ wurde. Unter dem Titel „Tage des Grauens und der Verzweiflung“ erscheint dieser Bericht in Kürze erstmals in ungekürzter deutscher Ausgabe, neu übersetzt, mit zusätzlichen Dokumenten in deutscher Erstausgabe und durchgängig illustriert.

Gottfried Keller – Das Sinngedicht

Aus der Reihe: Bücher, die sich wirklich lohnen

Gottfried Keller: Das Sinngedicht

Diverse Ausgaben

Schandbarerweise werden ganze Schülergenerationen im völlig unpassenden Alter mit Gottfried Keller gequält. Wer sich vom Schock erholt und in späterer Zeit Zugang zu ihm sucht, entdeckt erfreut: Der Mann kann unsagbar gut erzählen, und bei genauerem Hinsehen – ganz und gar unverstaubt. Obendrein dieser liebevolle Blick für Frauen, für ihren Liebreiz – und mit welcher Leichtigkeit er das `rüberbringt!

Gottfried Keller Das Sinngedicht CoverEines seiner schönsten Bücher ist »Das Sinngedicht«, kein rasend begeisternder Titel, gewiss, aber dahinter verbergen sich lauter glückende und nichtglückende Liebesgeschichten, die munter und flott und mit blitzgescheitem Augenzwinkern erzählt sind.

Ausgangspunkt ist ein im Verstauben begriffener Wissenschaftler, der jäh von der Midlife Crisis gepackt wird und entsetzt bemerkt, dass ihm etwas fehlt im Leben: die Liebe. Und sofort stürzt er sich aufs Pferd und reitet in die Welt hinaus, um sich mit Neugier und den guten Dingen des Lebens zugetan unter weiblichen Wesen zu tummeln.

Hochvergnüglich und erfrischend – und wer Feuer fängt, lese gleich den »Landvogt von Greifensee« hinterher, das ist auch so ein abschreckender Titel und auch so ein tolles Buch dahinter.

Gottfried Keller und die Liebe – in seinem Leben war das übrigens eine Chronik kleiner Tragödien. In regelmäßigen Abständen verliebte er sich wild und ungestüm, und nie mit glücklichem Ende. Wenn mal wieder eine einsam-einseitige Anbetung jäh in Abfuhr und Zurückgestoßenwerden gemündet war, pflegte er sich zu besaufen, wahllos Menschen anzugiften und sich hernach von Sinnen zu prügeln – von solch sympathischen Charakterzügen hat uns der Deutschunterricht auch nichts erzählt, oder?

Michael Klein

D. H. Lawrence – Söhne und Liebhaber

Aus der Reihe: Bücher, die sich wirklich lohnen

D. H. Lawrence: Söhne und Liebhaber – Das Hörspiel

Der Hörverlag, 3 CDs

David Herbert Lawrence, Söhne und Liebhaber, Hörbuch Cover

D. H. Lawrence, Söhne und Liebhaber, Hörbuch

England gegen Ende des 19. Jahrhunderts. In der Bergbauregion um Nottingham lebt die Familie Morel: Walter, der Vater, ein ausgelaugter Bergarbeiter und Säufer, Gertrude, die bürgerlich erzogene und nach Höherem strebende Mutter. Alle Hoffnungen auf ein besseres und bedeutenderes Leben muss sie freilich in ihre Söhne William und Paul legen, deren Lebenswege sie mit sanfter Bestimmtheit mit zu bahnen sucht.

William scheint, als er erwachsen wird, tatsächlich zu gesellschaftlichem Erfolg und Ansehen zu gelangen. Doch als ihn ein Schicksalsschlag trifft, überträgt die Mutter alle Ambitionen auf den jüngeren, sensiblen Sohn Paul, der sich anschickt, ein begabter Kunstmaler und Designer zu werden.

Paul ist innerlich hin- und her gerissen zwischen widerstreitenden, ambivalenten Gefühlen zu drei Frauen. Seine engste Vertraute ist die junge, reine Miriam aus dem Nachbarort, mit der er über Kunst und Leben diskutieren kann und die seine künstlerische Arbeit inspiriert. An den Gesprächen mit der älteren Städterin Clara findet Paul, der bald die Zwanzig überschreitet, zwar nicht den gleichen Gefallen, doch strömt sie auf ihn eine betörende erotische Verlockung aus, die sie ihm immer wieder ungemein attraktiv and anziehend macht. Und doch bleibt da stets die enge Bindung zur Mutter, der er sich entziehen möchte und immer wieder doch nicht wirklich entziehen kann.

So sehr Paul versucht, zu innerer Klarheit und fester Orientierung zu gelangen, er pendelt in abrupten Stimmungswechseln und mit einer wachsenden, halb untergründigen Frustration in seinen Gefühlen zwischen diesen drei Frauen, ohne einen festen Platz im Leben finden zu können.

Die genannten Personen und Verhältnisse hat es sehr ähnlich tatsächlich gegeben, denn der 1913 erschienene Roman »Söhne und Liebhaber« von D. H. Lawrence (1885-1930, »Lady Chatterley«, »Liebende Frauen«) fußt auf autobiographischen Erfahrungen.

Ungemein zu empfehlen ist die Hörspieladaption von Helmut Peschina (Skript) und Ulrich Lampen (Regie), sie ragt aus dem heutigen Hörspieleinerlei erfreulich weit heraus. Die geschilderte Welt und ihre Figuren werden dem Hörer plastisch vor Augen gestellt, die Sprecherleistungen u. a. von Patrick Güldenberg als Paul und Anne Müller als Miriam sind glänzend. Zur konzentrierten, stimmigen, intensiven Atmosphäre tragen besonders auch Michael Rotschopf als Erzähler bei – der einen Tonfall findet, der den Hörer vier Stunden lang wahrlich zu packen vermag – sowie Jakob Diehl, dessen düster-elegische Streichquartett-Kompositionen den Ernst und die vorahnungsvolle Unausweichlichkeit des Stoffs brillant zur Geltung bringen. Hier stimmt wirklich alles.

Michael Klein

Reiner Kunze – ein Geburtstagsporträt (2)

Einer meiner literarischen Helden, der Dichter Reiner Kunze, wurde dieser Tage 85 Jahre alt. Ein guter Grund für ein Geburtstagsporträt.

Hier ist der zweite Teil.

 

Im vorstehenden ersten Teil dieses Geburtstagsporträts ging es um Reiner Kunzes Grundthemen, um seine Kindheit und Jugend unter der Trikolore »kohle, gras und himmel«, um seine zunehmenden Konflikte in der DDR mit dem dogmatischen Charakter des Kommunismus und dem Repressiven eines jedes eigene Denken entmündigenden und alles Private misstrauisch beargwöhnenden Staats, schließlich um das Prosabuch »Die wunderbaren Jahre«, das im Westen zum Bestseller wird. Die Staatsmacht der DDR sinnt auf volle Härte, doch die Angst vor der internationalen Aufmerksamkeit und vor der geahnten Peinlichkeit des Eingeständnisses lässt die Konsequenz mäßiger ausfallen. Man signalisiert Kunze, das Land zu verlassen. Im Eilverfahren wird die sogenannte Übersiedlung in die Bundesrepublik abgewickelt. Es soll schnell gehen. Am Aufsehen, das der Fall erregt, ändert das nichts.

Reiner Kunze ein tag auf dieser erde Gedichte

ein tag auf dieser erde

Kunze erlebt den Neuanfang im Westen als Befreiung, als Erfahrung der bedeutend größeren politischen Freiheit und Meinungsfreiheit. Unkritisch dem Westen gegenüber ist er deshalb keineswegs. Die Bedeutung des Materiellen, die Macht des Geldes, die Selbstentäußerung vieler Menschen an blinde Betriebsamkeit sieht er mit wachem Blick. Und dass es auch im Westen Parteigeist, ideologische Verfeindungen, Vorurteile und Missgunst gibt, wird ihm schnell bewusst. Dennoch: es überwiegt das Gefühl der Befreiung.

Den Mechanismen des Literaturgeschäfts zufolge hätte er nach dem Prosabestseller »Die wunderbaren Jahre« rasch einen neuen Erzählband veröffentlichen müssen, doch den Marktforderungen gegenüber bleibt er konsequent taub. In zeitlich weiten Abständen veröffentlicht er Gedichtbände, die zeigen, dass in der Freiheit auch Kunzes Gedichte poetische Freiheit gewinnen. Seine Lyrik reift, Blick und Bandbreite der Ausdrucksmittel weiten sich, die Genauigkeit der Beobachtung, die Kraft und Anmut der Sprache und der Reichtum der Bilder nehmen noch zu.

In der DDR wurden dem jungen Kunze Vorhaltungen gemacht, er schreibe Liebesgedichte und vernachlässige den Klassenstandpunkt – so als dürfe Liebe ohne Politik nicht existieren. Wie um diesen Vorwurf noch mehr zu beschämen, als er sich selbst beschämt, hat er einige der schönsten Liebesgedichte der deutschen Gegenwartsliteratur geschrieben. Beispielsweise »schnelle nachtfahrt«: »Niemals wird es uns gelingen, die welt / zu enthassen // Nur daß am ende uns nicht reue heimsucht / über nicht geliebte liebe.«

Reiner Kunze Was macht die Biene auf dem Meer Gedichte für Kinder

Was macht die Biene auf dem Meer? Gedichte für Kinder

Kunzes Hauptthema in der DDR war die Verteidigung der Freiheit des Individuums und der Kunst. Sie gilt es auch hierzulande zu verteidigen: gegen Kommerz und Konsum, gegen die Überwältigung der schnelldrehenden Reizüberflutung, gegen die inneren und äußeren Verluste in einer profitorientierten Gesellschaft. Der Zweifel, ob wir die zunehmenden Beschädigungen unserer natürlichen Lebensgrundlagen noch lange werden verkraften können, zieht sich wie ein roter Faden durch Kunzes letzte Gedichtbände. »Je globaler die Welt in ihren Zusammenhängen wird, im Wirtschaftlichen«, sagt Reiner Kunze, »desto absoluter wird der Gewinn gelten. Und dem wird alles untergeordnet. Und da gibt es ein zynisches Bonmot, das heißt: “Die nächste Katastrophe kommt bestimmt.” Und die Menschheit hat das Katastrophenschwert längst über sich aufgehängt.«

Den großen Gedichtbänden »auf eigene hoffnung« (1981), »eines jeden einziges leben« (1986), »ein tag auf dieser erde« (1998) und »lindennacht« (2007) hat Reiner Kunze nun einen neuen großen hinzugefügt: »die stunde mit dir selbst«.

Reiner Kunze die stunde mit dir selbst Gedichte

die stunde mit dir selbst

Die meisten dieser neuen Gedichte sind in den letzten drei Jahren entstanden oder haben ihre gültige Fassung gefunden, sie sind abgeklärt, altersweise und von großer Schönheit. Kunzes Sprache ist, wie wir sie seit je gewohnt sind: konzentriert, präzise, kein Wort zuviel, keines zu wenig, jeder Gedanke, jeder Sachverhalt, jedes poetische Bild in knappster Form ausdrucksstark auf den Punkt gebracht. »die stunde mit dir selbst« vereint Reise- und Naturimpressionen, widmet sich dem Wesen des Gedichts und der Widerstandskraft der Kunst, erzählt von den Verlusten und Bedrohungen, denen wir als Menschheit und Individuen uns selbst aussetzen, zeichnet eine von zunehmendem Selbstverlust geprägte Zeit, zieht erste Lebensbilanzen und berichtet von der Erfahrung des Alters.

Die Gedichte sind jugendlich in der nie nachlassenden Neugier auf das Schöne und alles, was dem Leben Wert und Substanz verleiht. Sie sind klar im Blick auf die kurzgetaktete, immer häufiger auf leere Betriebsamkeit und hochgepumpte Vereinfachung setzende Welt. Und sie sind, nicht zuletzt deshalb, skeptisch, was die Aussichten auf die Zukunft angeht.

»die stunde mit dir selbst« ist ein Buch, das unsere Zeit braucht. Aber weiß sie es? Und kann sie ein solches Buch noch lesen?

»sie halten sich am handy fest«, heißt es in diesem Band, »Was ist und war / ist abrufbar / mit der fingerkuppe // Doch sie wissen schon nicht mehr, / was sie nicht mehr wissen«.

Das Gedicht heißt: »leichte beute«.

Wer nach der Lektüre dieses Bandes eine kleine Zugabe sucht, findet sie in der Broschüre »Doch schade um das Volk« aus der Edition Toni Pongratz, die zu Reiner Kunzes 85. Geburtstag erschienen ist.

Michael Klein

Reiner Kunze – ein Geburtstagsporträt

Einer meiner literarischen Helden, der Dichter Reiner Kunze, wird heute 85 Jahre alt. Ein guter Grund für ein Geburtstagsporträt.

Hier ist der erste Teil.

Reiner Kunze und Michael Klein im Gespräch

Reiner Kunze im Gespräch

Er liebt die Stille, die innere Sammlung und wahrt den befremdeten Blick auf all die Dinge, die unser Zusammenleben nicht vertiefen, nicht klüger, verständnisvoller, gerechter machen, sondern oberflächlicher, hektischer, egoistischer, verständnisärmer.

Reiner Kunze ist einer der bedeutendsten Lyriker der Gegenwartsliteratur – gerade eben ist sein neuer Gedichtband »die stunde mit dir selbst« erschienen –, und auch seine Prosa ist voller Klarheit und Poesie. Seine Bücher sind mittlerweile in mehr als dreißig Sprachen übersetzt, erscheinen beispielsweise auch in Japan und Korea, und sind mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u. a. mit dem renommierten Georg-Büchner-Preis. Sein Werk ist in mancherlei Hinsicht vom Zeitgeist – oder präziser: von Erscheinungen des Zeitungeistes – gerne weit entfernt. Für manches in unserer Gesellschaft gilt, was Kunze in einem Gedicht einmal knapp so beschreibt: »Im Leerlauf / Vollgas.«

Reiner Kunze Gedichtband Sensible Wege

Sensible Wege

In Kunzes Werk dominieren Werte, die ständig in Gefahr sind, ins Altmodische abzugleiten: Wahrhaftigkeit, Bescheidenheit, Naturverbundenheit, Stille, innere Einkehr, das Maß. Und Kunzes Bücher suchen, was sie selbst sind und was wir in unserer Welt zunehmend und mitunter verblüffend leichtfertig in Reservate drängen: Schönheit, die es zu bewahren gilt, Schönheit in der Natur und in der Kunst. Idyllisierend ist Kunzes Werk freilich nie. Nur ist es der Essenz des Lebens nahe.

Seine Kindheit und Jugend sind von materieller Armut und den einfachen Verhältnissen geprägt, aus denen der 1933 in Oelsnitz (im Erzgebirge) als Sohn eines Bergmanns Geborene kommt.

»Meiner kindheit liehen ihre farben«, heißt es in einem seiner Gedichte, »kohle, gras und himmel / Unter dieser trikolore trat ich an, / ein hungerflüchter, süchtig / nach schönem.«

Reiner Kunze Der Löwe Leopold Geschichten für Kinder

Der Löwe Leopold

Er wächst auf in der DDR, und als dem Mangel gewöhnten Arbeitersohn eröffnet wird, dass er die Oberschule besuchen und studieren können wird, ist seine Dankbarkeit groß. Doch schon im Lauf der 50er Jahre offenbart sich Kunze der dogmatische Charakter des Kommunismus und das Repressive eines jedes eigene Denken entmündigenden und alles Private misstrauisch beargwöhnenden Staats. Und er erlebt den massiven Ausgrenzungsmechanismus, der jeden trifft, der beginnt, kritische Fragen zu stellen.

Reiner Kunze schreibt, Gedichte vor allem, aber auch Geschichten für Kinder, Übersetzungen und Nachdichtungen. Doch in die von der »Staatsmacht der DDR« geforderte Linientreue willigt er nie ein. Als 1968 die Truppen des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei einmarschieren, ist das für Kunze die endgültige Gewissheit, nicht mehr auf eine ernstzunehmende Verbesserung der politischen Verhältnisse in der DDR hoffen zu können. Und eine strenge Zensur blickt auf jede seiner Zeilen mit pedantischen Argusaugen.

Seine kritischen Gedichtbände »Sensible Wege« und »Zimmerlautstärke« und das Kinderbuch »Der Löwe Leopold« können nur noch im Westen erscheinen, ebenso wie 1976 das Prosabuch »Die wunderbaren Jahre«, das seiner überzeugenden literarischen Qualitäten und des Aufsehens seiner Folgen wegen zum Bestseller wird. Es erzählt in kurzen, sich in der Summe verdichtenden Texten von den wunderbaren Jahren der Jugend mit ihrer Freude, Aufbruchstimmung, Entdeckerlust – und ebenso von den Jahren, die der Wunder bar bleiben, von den Barrieren und Schranken, die der persönlichen Freiheit in der DDR gesetzt werden, von der Unterdrückung und Engstirnigkeit der Machthaber. Obwohl Kunzes Buch auch voller Humor und Lebendigkeit ist, ist es vor allem beklemmend.

Reiner Kunze Prosa Die wunderbaren Jahre

Die wunderbaren Jahre

Weil Kunze lakonisch und ohne jede Übertreibung die Absurditäten des Staates, in dem er lebt, auf den Punkt genau beschreibt, bleibt der hilflosen Staatsmacht nur noch eines: das bis ins Extrem gesteigerte Arsenal der Repression. Post- und Telefonkontrolle existieren bereits: jetzt werden er und seine Familie in ihrer Wohnung abgehört, selbst die Verwandten unter Stasi-Bewachung gestellt, eine landesweite Diffamierungskampagne angeordnet.

Kunze, der von einer seltenen, unkorrumpierbaren Geradlinigkeit und Wahrhaftigkeit ist, lässt sich nicht einschüchtern. Das DDR-Regime, das Widerspruch nicht duldet, berät noch schweres Geschütz. Doch die Angst vor der internationalen Aufmerksamkeit und vor der geahnten Peinlichkeit des Eingeständnisses lässt die Konsequenz mäßiger ausfallen: Wie zuvor im Falle Wolf Biermanns, der zwangsausgebürgert wird, signalisiert man Kunze, das Land zu verlassen. Im Eilverfahren wird die sogenannte Übersiedlung in die Bundesrepublik abgewickelt. Es soll schnell gehen. Am Aufsehen, das der Fall erregt, ändert das nichts.

Den Neuanfang im Westen wird Kunze als Befreiung erleben, seine Lyrik weitet sich. Dass es aber auch im Westen gilt, die Freiheit des Individuums und der Kunst zu verteidigen, davon wird im zweiten Teil dieses Geburtstagsporträts die Rede sein, der an dieser Stelle vor dem Wochenende am 25./26. August erscheint.

Heute im TV: Auch der MDR gratuliert Reiner Kunze zum Geburtstag und sendet um 23:05 Uhr ein halbstündiges Porträt.

Michael Klein

»Tom Sawyer« als Williams-Jugendheft

Aus der Reihe: Schöne Fundstücke

Soll man sich nun einfach nur freuen oder sich doch etwas irritiert den Kopf kratzen, welche Schätze man in unserer Zeit für’n Appel plus halbes Ei online erwerben kann? Frisch ausgepackt: das Williams-Jugendheft »Die Abenteuer des Tom Sawyer« von 1947, bestens erhalten, als könne man es gerade genau so am nächsten Kiosk kaufen.

Nach dem II. Weltkrieg herrschte in Deutschland bekanntlich an so ziemlich allem Mangel – lediglich den Mangel selbst, den gab es in Hülle und Fülle –, und das betraf auch das Vorhandensein von Pappe, Papier, Heftgarn und Buchbindeklammern. Gleichzeitig existierte ein großes Lese- und Unterhaltungsbedürfnis bei äußerst bescheidener bis nicht vorhandener Kaufkraft.

Der Verleger Rowohlt kam in dieser Situation auf die brillante Idee, ganze Bücher in Zeitungsform zu drucken: der komplette Text in winziger Schrifttype bei geringem Zeilenabstand zusammengedrängt auf billigem Papier im Großformat. »Rowohlts Rotations-Romane« nannten sich diese Zeitungshefte, die ab Ende 1946 herauskamen, noch heute kennt man ihre Abkürzung: »rororo«.

Der Berliner Kinder- und Jugendbuchverlag Williams begann im Sommer 1947 nach diesem Vorbild eine eigene Heftreihe mit Klassikern für junge Leser. Der Verlag war seit Mitte der 20er Jahre eine der ersten Adressen im Verlagswesen, zu seinen erfreulichsten Verdiensten gehörte die Mittäterschaft an den Kinderbuchklassikern von Erich Kästner. Sie erschienen nämlich nicht nur bei Williams, sondern wurden auch von der Verlegerin Edith Jacobsohn initiiert. Es fehle an guten deutschen Kinderbuchautoren, ob er nicht eines schreiben wolle, fragte bzw. bat sie den mit ihr befreundeten Kästner. Kästner hatte seine Zweifel, ob er das könne, Edith Jacobsohn dagegen nicht die geringsten. Das erste Ergebnis hieß bekanntlich „Emil und die Detektive“.

In der Reihe der Williams-Jugendhefte erschienen Klassiker wie „Winnie Pooh“ (»Pu, der Bär«), »Heidi«, Kästner-Ausgaben und eben auch dieses Heft, das zwei meiner Helden zusammenbringt. „Tom Sawyer“ von Mark Twain, ungekürzt zusammengedrängt auf 60 Seiten, dazu zahlreiche kleine SW-Illustrationen von Walter Trier, dessen Zeichnungen voller Charme, Witz und Verspieltheit sind. Der junge Leser und Literaturfreund kennt Walter Trier natürlich vornehmlich durch seine Arbeiten für zahlreiche Kästner-Bücher, und Tom Sawyer und Huckleberry Finn reihen sich in diesen Stil so harmonisch ein, als läge St. Petersburg, Missouri, aus Mark Twains Roman irgendwo am Wannsee. Aber abgesehen von Detailverschiedenheiten haben die menschlichen Erfahrungen ja doch eine gewisse Grundähnlichkeit, und in diesem Fall passt die Verwandtschaft ganz hervorragend. Innen sieht das Heft so aus: eine winzige Schrifttype, die aber gut zu lesen ist, der Text zweispaltig einzeilig gesetzt und die meisten Seiten aufgelockert durch kleine Illustrationen. Das Heft erschien im Oktober 1947 in einer Auflage von 100.000 Stück.

Die Williams-Jugendhefte gab es von 1947 bis 1949. Dann kam das Wirtschaftswunder, und mit ihm Papier, Pappe und Garn für Bücher.

Michael Klein

M. Vargas Llosa – Tanten können zauberhaft sein

Aus der Reihe: Bücher, die sich wirklich lohnen

Mario Vargas Llosa: Tanten können zauberhaft sein

Suhrkamp Verlag, gebunden und als Taschenbuch

»Tante Julia trug ein blaues Kleid, weiße Schuhe, war geschminkt und beim Friseur gewesen; sie lachte laut und freiheraus und hatte eine raue Stimme und freche Augen. Erst allmählich fiel mir auf, dass sie eine attraktive Frau war.«

Diese Entdeckung macht, auf den zweiten Blick zumindest, der junge Nachrichtenjournalist Mario aus Lima, dessen Tante – die Schwester der Frau seines Onkels – nach gescheiterter Ehe sich bei seinen Eltern einquartiert und je länger, je mehr dem jungen Mann mit ihrer Lebensfreude und Sinnlichkeit den Kopf verdreht.

Beide sind anfangs überrascht, dass es sie trotz Altersunterschied so sehr zueinander treibt, und weil man fürs erste eh nicht an eine gemeinsame Zukunft glaubt, lebt man die Liebelei der Gegenwart in stiller, aber nicht ungebrochener Heimlichkeit. Freilich: die Gefühle werden ernst, und Marios entsetzte Familie rüstet zur Gegenwehr gegen den aufkommenden Heiratswunsch.

In großer Erzählfreude und breitem Panorama brachte Nobelpreisträger Mario Vargas Llosa in »Tante Julia und der Schreibkünstler« die, wie er selbst sagt, weitgehend autobiographische Geschichte der Liebe des achtzehnjährigen Mario mit seiner 32jährigen Tante Julia zu Papier.

Der »Schreibkünstler« des Titels ist allerdings keineswegs er selbst – auch wenn er sich damals bereits als Autor erprobt und vom literarischen Leben in Paris träumt -, sondern der begnadet-exzentrische Schriftsteller Pedro Camacho, der voller Emphase und überzeugt von den künstlerischen Möglichkeiten dieser Form bei jenem Rundfunksender, für den Mario arbeitet, in immensem Arbeitspensum sämtliche Hörspiele schreibt, die Quotenhits seiner Zeit.

Genau genommen bekommt der Leser mit diesem Roman »two in one«: Zum einen die Liebesgeschichte, zum anderen – mit diesem Erzählstrang kapitelweise alternierend, eine Sammlung von Storys, die auf den Hörspielserien Camachos basieren und Helden haben, die allesamt so fünfzig, adlernasig, breitstirnig, von aufrechtem Charakter und gütigem Wesen sind, wie ihr Autor sich selbst sieht. Durch dieses Wechselspiel gewinnen beide Teile, und dass diese Storys durchaus reißerische Motive beinhalten und sich gerne des feinen, unterschätzten Prinzips des Cliffhangers bedienen, erhöht den Reiz der Lektüre, denn Llosa wandelt souverän auf der Grenze zwischen augenzwinkernder Ironie und echter Bewunderung für das dramatische Vergnügen.

Vor allem ist »Tante Julia und der Schreibkünstler«, Mitte der 70er Jahre geschrieben und bei uns vor einigen Jahren in glänzender Neuübersetzung von Thomas Brovot erschienen, ein Buch der ungezügelten Erzählfreude, voller humoristischer Passagen, verspielt, lebensnah, schwungvoll und großartig zu lesen.

Mitreißend gelungen ist übrigens auch eine Hörspieladaption dieses Romans von DRS 2 aus dem Jahr 2002, die bei uns als 10-CD-Box im Hörverlag erschienen ist. Unter der Regie von Claude Pierre Salmony brillieren André Jung, Herlinde Latzko und Christoph Bantzer.

Michael Klein